Die Briefe des Sidonius Apollinaris als literarisch-gesellschaftliche Gelegenheiten
Das Dissertationsvorhaben zielt darauf ab, die gesellschaftlichen und literarischen Gelegenheiten in der Briefsammlung des spätantiken gallischen Bischofs Sidonius Apollinaris (*ca. 431; † nach 481) näher zu untersuchen. In den 147 Briefen werden verschiedene Anlässe verschriftet und jeweils an einen bestimmten Adressaten kommuniziert. Jene können ganz konkret (z.B. ein Todesfall oder ein Amtsantritt), jedoch auch abstrakter (z.B. eine Freundschaftsbekundung oder eine literarische Darbietung) ausfallen. Das Format des Briefes definiert dabei die Grenzen, aber auch die Möglichkeiten, wie ein Anlass im Einzelnen festgehalten wird. Denn dieser wird für den Leser – sowohl in Form des unmittelbaren Adressaten als auch nach Publikation in Form einer breiteren Leserschaft – aus der Perspektive des brieflichen Ichs (re-)inszeniert. Gerade Letzteres birgt enormes Potenzial zur literarischen Ausgestaltung und gesellschaftlichen Positionierung, was sich bei den sidonianischen Briefen nicht zuletzt in ihrer facettenreichen, ausgefeilten Form zeigt. Um diese Aspekte für eine Analyse zugänglich zu machen, sollen die Briefe als Gelegenheitsliteratur interpretiert werden, eine Literaturform, die bislang in der Dichtung, nicht aber in der Epistolographie (d.h. Briefliteratur) verortet wurde.
Das Hauptanliegen der Arbeit besteht darin, mit dieser Gattungseinstufung einen neuen Ansatz vorzustellen, um die literarische Gestaltung einzelner Briefe sowie des gesamten Briefkorpus systematisch zu untersuchen. Dabei soll herausgearbeitet werden, wie Sidonius den publizierten Brief dazu nutzt, um Gelegenheiten einerseits realitätsverortet-authentisch und andererseits literarisch ausgefeilt zu inszenieren. Da für eine solche Inszenierung aber zugleich ihr gesellschaftlicher Kontext unabdingbar ist, soll auch dieser in die Analyse miteinbezogen werden. Anhand konkreter Fallstudien soll aufgezeigt werden, wie Sidonius die Anlässe brieflich darstellt und das dabei entstehende Potenzial gezielt nutzt, um ein bestimmtes Bild des sozialen Raumes um sich herum zu zeichnen und zu verstetigen. Diese Darstellung betrifft zum einen die eigene Identität, zugleich aber auch die Relation des brieflichen Ichs zu anderen Akteuren in den Briefen. Auf diese Weise soll ein Beitrag zum tieferen Verständnis des briefliterarischen Werkes eines bestens in der gallo-römischen Elite des fünften Jahrhunderts vernetzten Literaten und dessen Position innerhalb der blühenden Briefkunst im Gallien dieser Zeit geleistet werden.