'Exzess ohne Boden'. Balance und Ambiguität in Ovids Tristien.
In seinen Tristien, einer ersten Sammlung elegischer Exilgedichte, die gemeinhin den Beginn dieser Gattung in der abendländischen Literaturgeschichte markieren, erzählt der römische Dichter Ovid die Erfahrungen seiner Verbannung (8 n. Chr.), seine Reise nach und seine Erlebnisse in seinem zugewiesenen Exilort Tomis an der Küste des Schwarzen Meeres. Dabei schildert er eine Welt, in der nicht nur Jahreszeiten und Klima, sondern auch seine körperliche und seelische Verfassung aus dem Gleichgewicht geraten. Mit metaphorischen und poetologischen Bildern des Gleichgewichts (z.B. Ikarus als Reflexionsfigur) stellt der Dichter seinen Sturz als radikalen Verlust des Gleichgewichtes dar, in dem Leben und Dichtung in eine Krise gestürzt sind, die einer Neuorientierung und eines neuen stabilen Standes bedürfen. Diese Thematik ist von der bisherigen Forschung zwar beschrieben, dabei aber lange Zeit als einseitige Selbst-Herabsetzung des Dichters nach der Verbannung empfunden worden.
Das Projekt geht der Frage nach, wie dieser Verlust des sicheren Standes auf der Darstellungsebene der Tristien umgesetzt ist. Der methodische Ansatzpunkt dafür ist die exzessive Häufung von Unbestimmtheitsphänomenen, die besonders die erste Sammlung von Ovids Exilgedichten prägen: Bis heute sind etwa die Gründe für die Verbannung auf persönlichen Erlass des Augustus unbekannt und ein Rätsel, das die Forschung lange beschäftigt hat. Grund dafür sind nicht nur der Mangel an historischen Quellen (außer Ovid selbst schriebt keiner seiner Zeitgenossen darüber), sondern auch eine Strategie des Textes, der immer wieder um dieselbe informationelle Leerstelle kreist, den Verbannungsgrund metaphorisch umschreibt und ihn dadurch erwähnt und doch nicht erwähnt. Andererseits entstehen die Gedichte in einem politischen Kontext, in dem der öffentliche Diskurs immer mehr beschnitten wird und letztlich auch, wie im Falle Ovids, in direkten Konflikt mit diesem sich neu konsolidierenden Machtsystem von Augustus geraten kann. Die Tristien stellen den vordergründigen Versuch dar, sich mit dem Kaiser zu versöhnen, sind jedoch bei genauerem Hinsehen von doppelten Lesarten, kritischen Untertönen und spitzen Pointen durchzogen, die einer hermeneutischen Festlegung in der Interpretation entgegenstehen. Zuletzt ist auch die in den Texten sprechenden Dichterstimme fluide und als Vexierbild aus einander widerstreitenden literarischen ‚Masken‘ (personae) zu betrachten, die sich den Lesenden auf verschiedene Weise annähern und die Grenzen des autobiographischen (oder: autofiktionalen) Sprechens vor dem Hintergrund eines ‚intentionalen Trugschlusses‘ weit ausloten.
Die Arbeit unternimmt den Versuch, diese beiden charakteristischen Merkmale von Ovids Dichtung zu verbinden und die Ambiguität als poetische Strategie zu interpretieren, die das verlorene Gleichgewicht des Dichters im Exil auf der Ebene des textlichen Diskurses realisiert. Indem dem Text wichtige informationelle Fundamente entzogen werden, so der Ansatzpunkt, geraten die Gedichte gewissermaßen selbst ‚aus dem Gleichgewicht‘, versetzen die Leserschaft in den selben 'krisenhaften' Zustand wie den Protagonisten und machen damit den Sturz des Dichters rezeptionsästhetisch erfahrbar.