6. Caesars Gallischer Krieg als Kampf um die Zeit
Prolegomena zu einer temporalen Geschichte der römischen Expansion als Gewaltunternehmung
(Werner Riess, Universität Hamburg)
Im Teilprojekt 2 der von der Hamburger Landesforschungsförderung finanzierten Forschungsgruppe „Gewalt-Zeiten“ geht es um die Eroberung von Städten im antiken und spätmittelalterlichen Mediterraneum aus zeitlicher Perspektive (TP 2: Einnahme von Städten : Forschungsgruppe Gewalt-Zeiten : Universität Hamburg (uni-hamburg.de)). In einem Teil des Projekts soll der heuristische Wert eines zeithistorischen Interpretationsansatzes für eine Neuerklärung der Geschichte der römischen Expansion gezeigt werden. Die folgenden Ausführungen sind nicht als Präsentation von Ergebnissen zu verstehen, sondern skizzieren vielmehr Prolegomena in Form von Fragen, die andeuten, welche unterschiedlichen Richtungen derart ausgerichtete Forschungen nehmen können.
Die Expansion Roms vom Stadtstaat zu einem Weltreich wurde in der Forschung vielfach analysiert. Dabei wurde meist die räumliche Dimension dieser bis dahin ungekannten territorialen Erweiterung thematisiert. Doch es fehlen bislang Studien, die sich spezifisch mit Strukturen der Zeitlichkeit in diesem oftmals blutigen Prozess auseinandersetzten. Dies erstaunt umso mehr, als in engem Zusammenhang mit dem spatial turn mittlerweile der temporal turn steht, d.h. die Betrachtung historischer Phänomene sub specie temporis. Im Kontext des Rahmenthemas „Gewalt-Zeiten. Temporalitäten von Gewaltunternehmungen“ erscheint es daher als ein Forschungsdesiderat, die Geschichte der römischen Expansion unter diesem Blickwinkel neu zu erzählen, als ein Jahrhunderte währendes Gewaltunternehmen, das in ganz entscheidender Weise durch Zeitlichkeit geformt und immer wieder auch dynamisiert wurde. Vereinfacht gesprochen geht es darum, wie Gewalt im Hinblick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeitlich konzeptualisiert und ausgeübt wird. Wir gehen davon aus, dass Gewalterfahrungen, Gewaltkonzepte, konkrete Gewaltpraxen sowie auch Antizipationen von Gewalt im Wesentlichen auch temporal moduliert werden. Temporalität wird dabei zum einen begriffen als konstitutives Element in subjektiven Erinnerungsformen, in gegenwärtigen Gewalterfahrungen sowie in Gewalterwartungen durch die Akteurinnen und Akteure, womit Täter wie Opfer gemeint sind. Zum anderen baut auf diesen subjektiv geprägten Gewaltwahrnehmungen Temporalität auch als handlungsleitender Aspekt auf, als ein Gewalt in vielfältiger Weise strukturierendes Element, das unter Umständen auch als direktes Instrument des Gewalthandelns dienen kann. Anders formuliert, beeinflussen also jeweils kulturspezifische Zeitwahrnehmungen auch die konkrete Ausübung von Gewalt und damit auch ihre Erscheinungsformen.
Als Anwendungsbeispiel wollen wir einige zeitliche Strukturen des Krieges, den Caesar in Gallien führte, etwas genauer beleuchten. Caesars Bellum Gallicum, seit Jahrzehnten Schullektüre und v.a. in Blick auf die Selbstdarstellung Caesars hin befragt, harrt einer zeithistorischen Untersuchung. Drei Präliminarien seien vorausgeschickt: (1) Caesar war nicht nur Augenzeuge und Berichterstatter über die von seinen Legionen in Gallien ausgeübte Gewalt, sondern selbst Gewalt-Akteur und aufgrund der Dimensionen der Kämpfe auch Gewaltunternehmer im Sinne des Projektantrags. (2) Die jahrelangen Kämpfe bedingten auf keltischer wie römischer Seite umfangreiche zeit-räumliche Planungen, so dass Caesar als Feldherr auch als Zeit-Manager gelten kann. (3) Obgleich der Caesarische Bericht eine Selbstrechtfertigung vor dem Senat und somit eine Propagandaschrift darstellt, sind seine Ausführungen durchaus ernst zu nehmen, denn sie mussten für seine Leser plausibel sein. Die Kämpfe dauerten von 59 bis 52 v. Chr., am Ende war das bis dato freie Gallien (die sog. Gallia Comata) von den Römern erobert und wurde provinzialisiert.
Caesars Text ist von Zeitangaben durchtränkt. Strategische wie taktische Überlegungen und Aktivitäten unterliegen einer Vielzahl zeitlicher Parameter. Caesars Prokonsulat in Gallien selbst war zeitlich beschränkt, in der kalten Jahreszeit zogen sich die Truppen zumeist in Winterlager in Norditalien zurück, Nahrungsmittel- und Materialversorgung mussten über große Distanzen hinweg sichergestellt werden. Schon aus diesen Gründen war Caesar zeitlich „unter Druck“, während die Kelten in der Tiefe des Raums siedelten, über bessere Ortskenntnisse verfügten und den Römern auch durch Guerilla-Taktiken zusetzten, sie also für ihre Defensive mehr Zeit hatten als Caesar mit seinen Angriffen. Der Gallische Krieg kann also durchaus auch als ein Kampf um die „Ressource Zeit“ beschrieben werden. Durch die technische Überlegenheit der römischen Ingenieure und Pioniere setzte sich Caesar schließlich in den Besitz der Zeit und oktroyierte den Galliern sein Zeitregime auf. Durch unerwartete, rasche Vorstöße, Gewaltmärsche und Galliern wie Germanen neuartige Brückenbauten über den Rhein konnte Caesar Kampfhandlungen (unter günstigen Umständen) nach Belieben beschleunigen. Dabei war die ostentative Zurschaustellung römischer technischer Überlegenheit auch Teil der psychologischen Kriegsführung Caesars. Die Beschleunigung wurde in ihrer beinahe theatralisch in Szene gesetzten Performanz (z.B. bei der Rheinüberschreitung) also zu einer physischen wie psychischen Waffe des Zeit-Organisators Caesar.
Andererseits dürfen die spektakulären Einzelaktionen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie vielleicht gerade deswegen notwendig waren, weil Caesar permanent zeitlich überfordert war und sie dazu dienen sollten, den Mangel an Zeit auf Seiten der Römer zu kompensieren und auch zu verschleiern. Dem Text merkt man an, dass Caesar nur dort vor Ort war und sein konnte, wo sein Eingreifen aufgrund von Notlagen unbedingt nötig war. Parallelaktionen, die schwierig zu synchronisieren waren und die offenbar weniger die Aufmerksamkeit des Feldherrn beanspruchten, wurden an untergeordnete Kommandeure delegiert. Caesar priorisierte also zeitlich seine Präsenz an bestimmten Schauplätzen, entweder um Notfälle zu verhindern, zu beheben oder, um in Schlüsselmomenten (und an Schlüsselorten) die Weichen für nachfolgende militärische Erfolge zu stellen.
Betrachtet man die Sequenz der Ereignisse, die Caesar sich bemüht auf narrativer Ebene logisch und organisch auseinander hervorgehen zu lassen, so drängt sich oftmals der Eindruck auf, dass er mehr reagierte als agierte, jedoch nicht immer, um Römer oder keltische Verbündete zu verteidigen, wie er dem Leser glauben machen will, sondern weil er von den Feinden von einer ad hoc-Maßnahme zur nächsten getrieben wird. Die Frage stellt sich, ob sich aus den vielen Einzelaktionen überhaupt ein „Krieg“ erschließen lässt oder ob am Ende eine lange Aneinanderreihung von Aktionen und Reaktionen, von Märschen, Überfällen, Schlachten und Scharmützeln den gallischen Widerstand schließlich versiegen ließ. Ist der „Gallische Krieg“ letztlich ein narratives Konstrukt Caesars, das ex post jahrelangen römischen Offensivhandlungen „Sinn“ verleiht? Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage nach den Kriegszielen Caesars neu: Ab wann hatte Caesar die Eroberung „ganz Galliens“ wirklich vor Augen? In seinem Bericht erfahren wir davon nichts. Caesar eilt siegreich von Schauplatz zu Schauplatz und verbirgt hinter der Schilderung einer raschen Ereignisabfolge all die Unwägbarkeiten und das Nicht-Planbare seiner Militäroperationen.
Ein weiteres Indiz für die (zeitliche) Überforderung der Römer ist die oftmals exzessive Gewalt, die sie gegenüber der Zivilbevölkerung ausüben. Immer wieder ist davon die Rede, wie Dörfer geplündert und niedergebrannt, die Einwohner massakriert bzw. versklavt werden. Die Opferzahl am Ende des Gallischen Krieges wird auf ca. eine Million Menschenleben geschätzt. Jüngere Forschungen, insbesondere von Gabriel Baker (2021), zeigen, dass Greueltaten von römischer Seite keineswegs immer nur spontane und willkürliche Aktionen waren, in denen Soldaten ihre Affektkontrolle verloren, sondern auf Befehl, d.h. bewusst und kalkuliert eingesetzt wurden, um die Moral der Gegner zu brechen. Zahlreiche Beispiele aus den Expansionskriegen zeigen, dass Römer immer dann zu extremer Gewalt griffen, wenn sie mit der spezifischen Kampfweise und Taktik der Feinde nicht zurechtkamen (z.B. Samniten, Numider, Lusitaner in Hinterhalten, Nachtangriffen, Guerilla-Taktiken), sie also erhebliche Frustrationserfahrungen machen mussten. Gewaltexzesse, die im Grunde nicht der virtus militaris der Römer entsprachen, spiegeln also hoffnungslose Situationen der römischen Heere wider, Bedrohungslagen, welche gerade den jeweiligen Feldherren unter Druck setzten; die lange Dauer von Konflikten gefährdete seine Sieghaftigkeit und damit seinen innenpolitischen Ruf. Vor diesem Hintergrund sind die Caesarischen Schilderungen der oftmals entgrenzten Gewaltausübung seiner Soldaten das beste Zeugnis für seine Überforderung wie auch die seiner Truppen, gerade auch in zeitlicher Hinsicht.
Als bei Alesia am Ende alles auf dem Spiel stand und die Römer einen Zweifrontenkampf bestehen mussten (gegen die Belagerten im oppidum sowie das anrückende gallische Entsatzheer), sehen wir das Einbrechen von Kontingenz: Plötzlich verhielt sich das Entsatzheer inaktiv! Die Gründe hierfür sind bis heute umstritten. Deyber – Romeuf (2019) postulieren für die Nacht vom 25. auf den 26.9.52 v. Chr. eine Mondfinsternis, deretwegen ca. zwei Drittel des gallischen Entsatzheeres aus religiösen Gründen die Kampfhandlungen einstellten. Caesar erwähnt (wohlweislich?) diesen extremen Zufall nicht. Träfe er zu, würde er den „Erfolg“ Caesars und seiner Truppen in nicht unerheblichem Maße relativieren.
Hatte sich Caesar entgegen seines sonstigen militärischen Instinkts bei Alesia in eine hoffnungslose Lage hineinmanövriert? War man am Ende nur noch dankbar, dass man äußerst knapp der Katastrophe entronnen war? Eine Anomalie könnte darauf hindeuten: Anders als bei den meisten Belagerungen der Antike hören wir nach der Kapitulation des Vercingetorix nicht von der Plünderung und Zerstörung Alesias. Der römische Triumph wird in diesem Fall anders und nachhaltiger ausgedrückt: Aus Alesia wird eine Stadt römischen Zuschnitts, die in den folgenden Jahrhunderten nur noch von regionaler, sekundärer Bedeutung ist.
Lektüre:
Deyber, A. – Romeuf, D., Les derniers jours du siège d’Alésia: 22-27 septembre 52 av. J.-C., Paris 2019.
Baker, G., Spare No One. Mass Violence in Roman Warfare, New York – London 2021.