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Peter von Danckelman, Oldenburg

Der Autor ist Teilnehmer des DFG-Projektes "Prosopographia Palmyrena. Grundlagen einer sozialen Morphologie Palmyras" unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Sommer (Universität Oldenburg).


Palmyras besondere Lage „inter duo imperia“ hat schon seit Plinius die Fantasie westlicher Autoren angeregt. Bis zu ihrer weitgehenden Zerstörung durch den IS waren ihre romantischen Ruinen ein steter Anziehungspunkt für Abenteurer, Schriftsteller und Touristen. Die etwa auf halbem Wege zwischen Mittelmeer und Euphrat gelegene Oasensiedlung von Tadmor war zwar schon in der Bronzezeit besiedelt, aber fassbare epigraphische Befunde gibt es erst ab der zweiten Hälfte des Ersten Jahrhunderts vor Christus. Ab diesem Zeitpunkt findet sich ein über drei Jahrhunderte bis zum Jahr 274 n. Chr. hinweg umfassendes Corpus aus mehr als dreitausend Inschriften. Die Mehrzahl dieser Inschriften wurde auf palmyrenisch verfasst, einem lokalen Dialekt des syrischen, dessen Entschlüsselung maßgeblich auf die Arbeit französischer Forscher des 18. Jahrhunderts zurückgeht. Das Spektrum der aramäischen Inschriften reicht von wenigen Zeichen langen Graffiti über die Widmungen von Opferaltären und zahlreiche in den Nekropolen der Stadt überlieferte Grabinschriften bis hin zu Monumentalen Ehreninschriften. Zusätzlich finden sich mehrere hundert bilinguale oder rein griechischsprachige Inschriften, die zumeist der öffentlichen Sphäre zugeordnet werden können: Sie stehen an der Fassade monumentaler Grabtürme, auf den Sockeln von Statuen oder in Tempeln. Lateinische Inschriften sind dagegen selten und kommen quasi nur in Verbindung mit aramäischen oder griechischen Texten vor. So bunt die Textsorten sind, so weit verstreut sind auch ihre Fundorte: Die palmyrenischen Handelsaktivitäten und der Dienst in Hilfstruppeneinheiten des römischen Heeres sorgten dafür, dass sich Zeugnisse der palmyrenischen Diaspora vom Hadrianswall über Rom, Africa Proconsularis, Ägypten und Dacia bis hin zur Festungsstadt Dura Europos am Euphrat verstreut finden.

Ziel des von der DFG geförderten Projekts der Prosopograhia Palmyrena ist es dementsprechend, sämtliche bekannten Informationen über die in diesem Inschriftenkorpus benannten Personen zu sammeln, sie in unterschiedlichen Kategorien zu ordnen und sodann  in einer Datenbank zugänglich zu machen.

Bislang liegen Daten zu mehr als achttausend verschiedenen Individuen vor. Die gesammelten Informationen erstrecken sich dabei von Angaben zur Familien- und Stammesmitgliedschaft über die Art und Fundlage der errichteten Inschriften bis hin zu Angaben zur Berufs- und Religionsausübung.

Der spannendste und zugleich schwierigste Teil der Arbeit mit dem Datensatz ist dabei die Suche nach möglichen Identifikationen: Kann das Grab eines aus einer Ehrinschrift bekannten Mannes ausfindig gemacht werden? Können wir nachweisen, ob ein in Rom lebender Palmyrener Verwandte in Palmyra hatte? War der Anführer einer bestimmten Karawane vielleicht noch für andere Karawanen tätig? Erschwert wird diese Fragestellung durch den unterschiedlichen Informationsgehalt der einzelnen Inschriften.

So lautet etwa eine typische Grabsteleninschrift (PAT 0149):

zbdbwl br bwrpˀ ḥbl

Zabdibol, Sohn des Borpa, Ach!

Abgesehen von einer ausnehmend kurzen, patrilinearen Genealogie bietet diese Inschrift keinerlei Informationen über die soziale Stellung von Zabdibol oder seinem Vater. Da eine Datierung ebenso fehlt wie klare Informationen über die Fundlage bleiben nur die Namen der beiden Personen übrig.

Sucht man in der Datenbank nach zbdbwl, so erhält man einundsiebzig Treffer:



Eine Suche nach bwrpˀ resultiert in einundsiebzig Treffern:



Mangels Datierung und Fundort ist somit eine Identifikation selbst dann unsicher, wenn ein weiterer zbdbwl Sohn des bwrpˀ gefunden werden sollte.

Es gibt jedoch auch Fälle, in denen Onomastik, Genealogie, Datierungen und Fundort zusammen sehr sichere Datierungen ermöglichen. Ein gutes Beispiel dafür ist Hairan Sohn des Bonnes, Sohn des Rabbelu. Er ist zuallererst aus einer seltenen, von ihm selbst errichteten trilingualen Grabgründungsinschrift aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. bekannt:




Lat.
1  Haeranes, Sohn des Bonnes Sohn des Rabellus,
2  Palmyrener vom Stamm Mithenon,
3  errichtete dies für sich und die Seinen

Gr.
1  Im Jahr 363*, Monat Xandikos
2  Airan Sohn des Bonnes Sohn des Rabbelos,
3  Palmyrener vom Stamm Meithenos, für sich selbst
4  und Baalthega, seine Mutter
5  für ihre Verdienste und für die Seinen

Aram.
1  Im Monat Nisan des Jahres 363 wurde dieser Sarkophag des
2  Hairan, Sohn Bonnes, Sohn Rabbelus, Sohn Bonnes, Sohn Atentens, Sohn
3  Tymys des Tadmorers, der vom Stamm der Söhne des Mithenons ist gebaut; Auf (Geheiß von)
4  Bonnes, seinem Vater, und auf (Geheiß) Baaltegas, Tochter des blswry, jener (ist) vom
5  Stamm der Söhne gdybwls, seine Mutter, und für ihn und für seine Kinder zu ihrer Ehre.

In der Datenbank aufgeschlüsselt liest sich der Eintrag für Hairan dann so:

 

Ausgehend von der Datierung, seiner Genealogie, seiner Stammeszugehörigkeit und der seltenen Sprachvarianten kann Hairan mit der Person gleichen Namens aus zwei weiteren Inschriften identifiziert werden: Einer bilingualen griechisch-aramäischen Ehrinschrift aus dem Jahr 56 n. Chr. in welcher er von den Priestern des Bel-Tempels geehrt wird, sowie einer trilingualen Ehrinschrift aus dem Jahr 74 n. Chr., die ihm von der Boule Palmyras errichtet wurde.

Durch diese Identifikationen steigt unser Wissen über Hairan sprunghaft an: Von einem bloßen Namen auf einer Grabgründungsinschrift wird er zum Sohn einer aus einem anderen Stamm gebürtigen Mutter, der über mehrere Jahrzehnte hinweg die politische Landschaft in Palmyra prägte: Die Priester des Bel waren das prestigereichste religiöse Kollegium Palmyras und Hairan ist der einzige Palmyrener, dem die Boule jemals ihren Dank in einer trilingualen Inschrift ausdrückte. Höchstwahrscheinlich hatte die politische Bedeutung der Familie des Hairan auch nach seinem Tod weiterhin Bestand, denn der Name seines Vaters und seines Großvaters wurden weiter vererbt: Im Jahr 135 n. Chr. findet sich ein Bonnes, Sohn des Bonnes, Sohn des Hairan als Vorsitzender eben der Boule, die siebzig Jahre zuvor seinen Großvater ehrte.


*Lesung der griechischen Datierung nach IGLS XVII 535.


Weitere Lektüre:

Eleonora Cussini / Delbert Hillers: Palmyrene Aramaic Texts, Boston 1996
Palmira Piersimoni, The Palmyrene Prosopography, London 1995
Jean-Baptiste Yon, Les Notables de Palmyre, Beirut 2002




Justine Diemke, Hamburg

Wollten Sie schon immer wissen, welche Gerüche den Menschen bei einem Spaziergang im alten Athen oder Rom in die Nase stiegen? In der antiken Literatur findet sich eine Fülle an Geruchsbeschreibungen, die von Körpergerüchen unterschiedlicher sozialer Gruppen bis zu Gerüchen im urbanen Raum reichen. So wurden auch Thermen, Theaterbauten, Versammlungsorte und Bibliotheken parfümiert, um dem Besucher den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Aber nicht nur an öffentlichen Plätzen, sondern auch in den eigenen vier Wänden wurden die Nasen mit Duftstoffen verwöhnt, indem sogar Haustiere und Textilien mit Duftstoffen besprüht wurden. Der Geruch fungierte in der Antike als wesentliches Distinktionsmerkmal zwischen sozialen Gruppen. Schlechte Gerüche waren häufiger mit einem niedrigen Sozialstatus, Frauen oder bestimmten Berufsgruppen, etwa der Gerberei, verbunden. In der Antike ließ der Geruch eines Menschen nicht nur Rückschlüsse auf seinen Charakter zu, sondern wurde auch mit einem ungesunden Lebensstil wie einem übermäßigen Weinkonsum oder der Völlerei assoziiert. So galten stark parfümierte Herrscher, insbesondere die mali principes oder Tyrannen, als verweichlicht und dekadent. Solange Duftstoffe in Maßen verwendet wurden, fungierten sie als Prestigeobjekt der Nobilität und waren Zeichen der sozialen Zugehörigkeit. Schlechte Gerüche hingegen galten in der Antike als ansteckend, weshalb die Desodorierung im sepulkralen Kontext sowie auf dem Schlachtfeld eine reine Schutzfunktion erhielt.

Die Untersuchung von Gerüchen lässt sich unter das Forschungsfeld der sensory studies subsumieren, das in der letzten Dekade im Rahmen des neuen sensory turn eine Konjunktur erlebt. Obwohl die Beschäftigung mit dem Geruch als kulturelles und historisches Phänomen einen reichen Erkenntnisgewinn verspricht, stellen gerade olfaktorische Studien, was nicht zuletzt den wenigen Geruchsreferenzen in den schriftlichen Quellen geschuldet bleibt, nach wie vor eine Leerstelle dar. Im Rahmen eines interdisziplinären Drittmittelprojektes wurde daher versucht, sich der antiken Geruchswelt nicht allein auf Basis schriftlicher Quellen, sondern mithilfe experimenteller Methoden anzunähern. Ziel des Projektes war es, die antike Geruchswelt erfahrbarer zu machen, indem einzelne Duftstoffe mithilfe moderner Verfahrensweisen rekonstruiert wurden.

Als wichtige Quelle für die Parfümherstellung diente das Werk De materia medica von Pedanios Dioskurides (1. Jh. n. Chr.), der in seinem ersten Buch verschiedene Gewürze, Kräuter, Öle, Salben und Pflanzensäfte beschreibt. Anders als bei Plinius und Theophrast, die in ihren Traktaten die gleichen Duftöle thematisieren, enthalten Dioskurides‘ Schriften zusätzliche Informationen zu den Mengenangaben der Ingredienzien. Dass sich derartige Rezepte von Duftstoffen ausgerechnet in medizinischen Traktaten finden, ist kein Zufall, sondern ihrer therapeutischen Funktion geschuldet. Nach Dioskurides wurden Duftstoffe nicht nur auf die Haut aufgetragen, sondern auch in Salben gemischt oder als Arzneimittel gegen bestimmte Krankheiten eingenommen.

Besonders problematisch erwiesen sich die Übersetzungen einzelner Pflanzenarten und Gewürze, deren Identifizierung nicht immer eindeutig war und daher viel Raum für Diskussionen offenließ. Gemeinsam mit den Chemikern, die an dem Projekt mitwirkten, wurden daher mögliche Ideen und Lösungsvorschläge für die Rezepterstellung ventiliert. Ferner können wir nicht ausschließen, dass bestimmte Informationen und Herstellungsschritte, die für den Leser vielleicht selbstverständlich waren, nicht in die Beschreibung inkludiert wurden. Aus diesem Grund können wir uns zwar der „realen“ Geruchswelt der Antike annähern, dieser allerdings aufgrund der defizitären und disparaten Beschreibungen der Duftstoffe nicht ganz gerecht werden.

Nach der Erschließung aller Herstellungsschritte wurden die Duftstoffe in kleinen Gruppen hergestellt. Zum beliebtesten und wahrscheinlich teuersten Parfüm in der Antike gehörte das Rosenöl, das sogenannte Rhodinon. Das Rosenöl findet in der antiken Literatur vielfach Erwähnung (O.Claud. 1.171.3-7; P. Petr. 2.34b) und ist bereits in der Ilias attestiert (Hom.II.186-187). In den Quellen wird immer wieder der monetäre Wert des Parfüms unterstrichen. So erfahren wir in einem privaten Brief auf einem Ostrakon aus dem 1. Jh. n. Chr., dass der Adressant Opfer eines Raubüberfalls geworden ist (O. Claud. 1 171):

 

     Μενέλαος Μενελάῳ
     χ(αίρειν).
     καλῶς ποιήσις(*), ἐρωτῶ
     σ̣ε, ἐπὶ(*) διεπάγη(*) μοι ῥώ-
5   δινον(*), καλο͂ς(*) ποιήσις(*) πέμψας
     μοι τὸ λοικυθιν(*), ἐπὶ(*) οὐχ εὗρω\ν/(*)
     ἐνθάδε ἀγοράσαι.
     δώσις(*) δὲ το(*) κομί-
     ζωντί(*) σοι τὴν
10  ἐπισστολήν(*).



 

Menelaus bittet seinen gleichnamigen Freund um Zusendung des Rhodinions (ῥώδινον πέμψας), da ihm sein Parfümfläschchen (μοι τὸ λοικυθιν) gestohlen wurde und er vor Ort kein neues erwerben kann. Das Rosenöl wird Menelaus wahrscheinlich als Art Sonnenschutz auf seiner Reise durch die Wüste dringend gebraucht haben. Dem Rosenöl wird neben einer kühlenden Wirkung auch eine kurative Funktion zugeschrieben, was auf einen multifunktionalen Einsatz des Parfüms schließen lässt.

Zu den Originalmengen des Rhodinon gehören (Theophr. od. X. 45; Diosk. I, 43):
  • 2,494 kg (5 Liter) Öl aus Zitronengras (Cymbopogon schoenanthus)
  • 9,220 kg (21 Liter) grünes Olivenöl (Omphakinon)
  • 1000 Rosenblätter (Rosa centifolia)
  • Kalmus (Acorus calamus)
  • Honig, Salz, Schminkwurz

Bei den Mengenangaben handelt es sich Massenherstellungen, weswegen die Angaben entsprechend reduziert wurden. Auf Schminkwurz musste verzichtet werden, da der Rohstoff als Gefahrstoff deklariert ist. Im ersten Schritt wurde 5 g Zitronengras zerkleinert (Abb. 1) und in 50 ml demineralisiertem Wasser eingeweicht. Anschließend wurde 25 g Olivenöl hinzugegeben (Abb. 2). Daraufhin wurde die Mischung bis zum sanften Sieden erhitzt (Abb. 3). Anschließend musste die Mischung abkühlen und im Scheidetrichter abfiltriert werden. Mithilfe des Scheidetrichters wurde das Wasser von dem Öl getrennt. Das Öl wurde in eine mit Honig bestrichene Petrischale gegossen und es wurden 25 trockene Rosenblätter hineingegeben (Abb. 4). Nach dem Rühren wurde das Gemisch über Nacht eingeweicht. Nachdem sich das Sediment abgesetzt hat, wurde das Öl in ein kleines Gläschen filtriert (Abb. 5). Zum Schluss blieb nur noch die Beschriftung der Duftstoffe.


 


Höhepunkt des Experiments war schließlich das Riechen an den Duftstoffen. Einige Teilnehmer empfanden den Duft eines Parfüms als sehr angenehm, während andere denselben Duft sehr negativ beschrieben. Das Rosenöl wurde als geruchsarm wahrgenommen und hatte nur eine leichte Blütennote. Dies mag nicht zuletzt darin liegen, dass aus zeitlichen Gründen nur ein Ölauszug vorgenommen wurde. Um den Geruch des Öls zu intensivieren, werden in antiken Quellen insgesamt sieben Auszüge empfohlen. Durch die breitflächige Verwendung des Öls muss von der Person dennoch ein intensiver Geruch ausgegangen sein, der den eigenen Körpergeruch sicherlich vollständig überdecken konnte. Da die Öle nicht nur allein als Duftmarker dienten, sondern einen multifunktionalen Charakter hatten und u.a. im medizinischen Bereich verwendet wurden, mag daher der Geruch per se, anders als bei heutigen Parfüms, an sekundärer Stelle stehen.

Summa summarum ist uns die Rekonstruktion antiker Duftstoffe trotz anfänglicher Barrieren bei der Übersetzung einiger Ingredienzien mit großem Erfolg gelungen. Im kommenden Jahr soll das Duftstoffprojekt auf die Produktion von Salben, Cremes und Ölen ausgeweitet werden, von denen ebenfalls Rezepte in medizinischen Schriften vorliegen. Nicht zuletzt kann die Rekonstruktion derartiger Duftstoffe als Versuch gewertet werden, uns die Antike wieder ein Stück näher zu bringen.


Lektüre:

Betts, E. (ed.), Senses of the Empire: Multisensory Approaches to Roman Culture. London 2017.
Bradley, M. (ed.), Smell and the Ancient Senses, London 2015.
Diemke, J., Teaching about the senses in antiquity: Exploring the ancient world of scents through recreating ancient perfumes. Journal of Classics Teaching 23 (46), 2022, 117-120.

Lektüre:

The languages of the Roman army in the East and beyond

Parallel zu unserer Ringvorlesung "Altertumswissenschaftliche Forschung in der Ukraine", die am 20. Oktober 2022 startet, präsentieren wir in unserem neuesten Blog einen interessanten Beitrag aus der Feder eines ukrainischen Kollegen. Um seine Argumentation nicht zu verunklären, haben wir uns entschieden, ihn in der englischen Originalversion zu belassen.


Viktor Humennyi, PhD, Lviv, Ukraine, Ivan Franko National University of Lviv

The language is often considered one of the key indicators referring to the questions of Identity and its self-representation among the multiethnic and multilingual population of the Roman world. The ones who served in Roman army are no exception. The interesting case is represented by the soldiers of the auxiliary units. Among the other types of available sources, the inscriptions that were left by them can be chosen to analyze different aspects of their ethnic, religious and several other identities and how they were represented. As a case study we will take a look at the Palmyrean units stationed both in the Near East and in several other Roman provinces during the first centuries CE.

Despite the problems with the corpora that include inscriptions of Palmyrean origin (hopefully, some of them will be solved by the project of K. Klein, N. Samhouri and their colleagues, who work on the Corpus Inscriptionum Palmyrenarum (CIPalm). A Database of the Inscriptions from Palmyra) special attention can be given to the inscriptions that were left by the Palmyrean detachments stationed in various Roman provinces. The service in the Roman army is often considered to be a factor of Romanization and cultural interaction not only for the local provincial populations but between the units of different origins and the native populations of the regions where the units served. Parts of numeri Palmyrenorum and other Palmyrean auxiliary units can be traced in Dacia, Numidia, Egypt and Syria. The Palmyrene garrisons in Dacia can be detected by inscriptions from Dacia, at least two inscriptions from Palmyra itself and one Greek inscription from Thessalonica (IG X, 2, 1, 146). Somewhere after 159-160 CE numerus Palmyrenorum Tibiscensium and numerus Palmyrenorum Porolissensium can be attested in the inscriptions where they used Latin and sometimes Aramaic. The last one, perhaps, was the common writing language. This is considered by the find of an ostracon with a fragment of a Palmyrene inscription from Porolissum. The altars dedicated to the Palmyrene gods, are ornamented with Latin inscriptions and epitaphs are either in Latin or bilingual (Latin-Aramaic CIL ІІІ, 7999). In Egypt, sagittarii Hadriani Palmyreni Antoniniani, are attested in several Greek texts from Deir el-Bahari with the unit probably serving at Koptos. In Arabia and Syria we have mentions of Ala I Vlp(ia) Droma(dariorum) P(almyrenorum). Palmyrean soldiers are interestingly represented not only by inscriptions but by the Dura papyri of the cohors XX Palmyrenorum, where Latin and Greek are clearly dominating. In Dura, Greek is the dominant language.

The question that remains is how representative is the material that we have and how it generally corresponds with the linguistic maps of the regions. Among Greco-Aramaic (AE 1933, 206), Greek (AE 1933, 20) we have several other examples of Latin-Palmyrene bilingual inscriptions (AE 1947, 172) and Greco-Palmyrene bilingual inscriptions (AE 1947, 171). With some earlier examples, from the late 3rd century and during the 4th century CE, Latin is being used almost exclusively for the inscriptions of official character and the ones mentioning the military affairs (for example CIL III, 133). Part of Latin inscriptions connected with Roman military or political presence in the city clearly indicates non-local origins of their authors (AE 2012, 1748). Some middle and late 1st century CE inscriptions in Palmyra use three languages (See: AE 1998, 1433; AE 2002, 1509). The funerary inscriptions are mainly in Latin (AE 2002, 1518). We see inscriptions from the soldiers of the IV Legion which are in Greek (AE 1933, 217; AE 1940, 173) and which most likely represent a religious context. The early and the middle 3rd century CE Latin texts are connected with coh(ortis)] / I Fl(aviae) Chalc(idenorum) (AE 2002, 1513; AE 1991, 1574). Some inscriptions of that type are bilingual as well (Latin-Greek, with Latin always being the “first” language in the inscription, despite the fact, that the length of Greek and Aramaic parts of the text sometimes are bigger and more informative than the Latin one).

In the examples from Roman Syria itself we see that the auxiliary units mainly used Latin (AE 1987, 951 and AE 1949, 261). The bilingual inscriptions more often are found from the warriors of ordinary legions (a very typical example: CIL III, 186 (p. 972). Rarely do we see Greek inscriptions. Most of them come from Dura Europos and most likely they are private inscriptions (AE 1931, 115; AE 1929, 180). Among them Latin texts from Dura seem to quite rare (AE 1954, 264).

The language of inscriptions mainly represented not “Romanization” or imagined or real identities, but the regional, collective or individual context in which the inscription was created and had to fulfill its functions. It seems that the Roman auxilia from the East in the end didn’t become fully “Romanized” in a way we usually think about this issue. From the surviving contexts we can see that the surrounding context, the authorship and the personal or official character of the inscription was the main factor of the language that was chosen. Both in Palmyra and the Danubian provinces the choices sometimes were spontaneous. In Dacia, being in the “sea” of Roman army, and considering the fact that among the inhabitants of the East other people served in the auxiliary units, Latin became the lingua franca serving the general purposes of the inscriptions that were created. In any case, there still is need to explain, why the native Aramaic language appears so rarely and how the text was connected with the iconography represented in the inscription frames. Another question is how “typical” was the Palmyrene case in comparison with other auxiliary units from the East and the units from other regions of the Roman Empire.

The epigraphic prominence of the military in the provinces shows that the signs often considered to be the markers of “identity” (self)representation, move beyond traditional “Romanized”/“local” dichotomies. Different epigraphic evidence in connection with papyrological and archaeological expressions of military life of the auxiliary soldiers can help us to take a more complex look on the questions of “Otherness” in Roman Army as well as on the problem of the Socio-Linguistic landscape of the Roman provinces.

 

The text represents part of the results of the OeAD-funded project “Cultural identities, Roman Army and the province of Syria in the first-third centuries CE” which was conducted by the author in the autumn of 2021 at the Department of Ancient History, Papyrology and Epigraphy of the University of Vienna.

 

List of abbreviations:
IG - Inscriptiones Graecae
AE - L'Année épigraphique
CIL - Corpus Inscriptionum Latinarum

 

 

Überlegungen zu einem medizinhistorischen Postulat

Fabian Neuwahl, Köln

In einem kurzen Artikel im Gesnerus argumentierte der Celsus-Experte Philippe Mudry im Jahr 1980 dafür, dass er in Celsus’ Proöm (Cels. 1 pr 73) einen besonderen Zug der römischen Medizin ausgemacht habe: Im Gegensatz zur griechischen Medizin werde die Tatsache, dass der Arzt als amicus des Patienten auftritt, als Wert an sich geschätzt, was als kulturelles Erbe der traditionellen pater familias-Medizin einzuschätzen sei. Aufgrund seiner prominenten Stellung im Proöm handle es sich hierbei um eine programmatische Aussage des Celsus. Die These des medicus amicus als Besonderheit der römischen Medizin wurde von Mudry in den folgenden Jahrzehnten mehrfach aufgegriffen und fand ebenso Niederschlag im letzten großen Beitrag zur Celsus-Forschung von Aurélien Gautherie (2017, 338f. Hervorhebung FN):

„La médecine présentee par Celse dans le De medicina nous paraît donc insister, au-delà des différents individus, sur la singularité de la personne affectée par la maladie. L’attachement profond qui unit le praticien et le malade repose sur la reconnaissance en autrui d’un alter ego. De cette reconnaissance naît idéalement une amitié fondée sur la confiance (fides)…“

Im Folgenden möchte ich anregen, diese stark normative Deutung des Proöms und damit auch die Einschätzung der Rolle des römischen medicus zu überdenken. Zunächst eine einleitende Bemerkung: Wenngleich Werner Golder (2019, 19) zu Recht eine Diskrepanz zwischen den Proömien und dem übrigen Corpus festgestellt hat, dürften wir dennoch erwarten, dass der medicus amicus nach Mudrys programmatischer Deutung zumindest stellenweise im weiteren Verlauf des Werkes aufscheinen würde. Stattdessen finden sich Aussagen, die gerade nicht von einem vertieften Interesse am Individuum zeugen – bekannt ist Celsus’ Forderung an den guten Chirurg, der sich nicht von den Schreien des Patienten erweichen lassen soll (Cels. 7 pr. 4), aussagekräftig ebenso die Behandlung der Hydrophobie in Cels. 5,27,2c:

Sed unicum tamen remedium est, neque opinantem in piscinam non ante ei provisam proicere. Et si natandi scientiam non habet, modo mersum bibere pati, modo attollere: si habet, interdum deprimere, ut invitus quoque aqua satietur: sic enim simul et sitis et aquae metus tollitur.

Aber dennoch ist dies das einzige Heilmittel: den nichtsahnenden Patienten in ein Becken zu werfen, das er vorher nicht gesehen hat. Und wenn er nicht schwimmen kann, ihn bald unter Wasser gedrückt trinken zu lassen, ihn bald hinauszuheben: wenn er schwimmen kann, ihn eine Zeit lang herunterzudrücken, damit er auch gegen seinen Willen durch das Wasser gesättigt wird: so nämlich wird zugleich sein Durst und seine Furcht vor dem Wasser beseitigt.


Stellen wie diese (und das Nichtvorhandensein weiterer Belegstellen des medicus amicus) lassen aufhorchen, sodass ein erneuter Blick auf das erste Proöm angebracht erscheint. Eine Gliederung findet sich bei Christian Schulze (2001, 36):

§ 1–11: Medizinhistorischer Rückblick im engeren Sinne
12–26: Schule der Dogmatiker
27–44: Schule der Empiriker
45–53: Celsus’ eigener Standpunkt zur Rolle von Theorie und Praxis
54–73: Schule der Methodiker
74–75: Schluss, Celsus’ eigener Standpunkt zur Vivisektion

Der besagte Passus findet sich demnach am Ende von Celsus’ Argumentation gegen die medizinische Tradition der Methodiker, die von drei Krankheitsursachen ausgehen, dem status strictus, laxus und mixtus. Gegen diese Vorstellung der communia spricht sich Celsus dezidiert aus (Cels. 1 pr. 71–73):

71 Qui<n> etiam morborum in isdem hominibus aliae atque aliae proprietates sunt; et qui secundis aliquando frustra curatus est, contrariis saepe restituitur.

72 Plurimaque in dando cibo discrimina reperiuntur, ex quibus contentus uno ero. Nam famem facilius adulescens quam puer, facilius in denso caelo quam in tenui, facilius hieme quam aestate, facilius uno cibo quam prandio quoque adsuetus, facilius inexercitatus quam exercitatus homo sustinet: saepe autem in eo magis necessaria cibi festinatio est, qui minus inediam tolerat.

73 Ob quae conicio eum, qui propria non novit, communia tantum debere intueri; eumque, qui nosse proprietates potest, non illas quidem oportere neglegere, sed his quoque insistere; ideoque, cum par scientia sit, utiliorem tamen medicum esse amicum quam extraneum.

71 Ja, es gibt sogar bei denselben Menschen immer wieder neue Eigenheiten von Krankheiten; und wer bisweilen mit eigentlich hilfreichen Mitteln vergeblich behandelt wurde, wird oft durch ihr Gegenteil wieder gesund.

72 Die meisten Unterschiede findet man bei der Gabe von Nahrungsmitteln, wobei ich mit einem Beispiel zufrieden sein will. Denn Hunger erträgt ein Mensch leichter als junger Mann denn als Knabe, leichter in einem drückenden als in einem luftigen Klima, leichter im Winter als im Sommer, leichter, wenn er an eine Mahlzeit als an ein zweites Frühstück gewöhnt ist, leichter, wenn er untrainiert als wenn er trainiert ist: oft ist nun bei dem eine rasche Bereitstellung des Mahles erforderlicher, der das Fasten weniger erträgt.

73 Deshalb folgere ich, dass derjenige, der die Eigentümlichkeiten (des Patienten) nicht kennt, allein die Allgemeinheiten betrachten muss; dass der, der die Eigentümlichkeiten kennen kann, zwar jene nicht vernachlässigen darf, aber auch auf diese Nachdruck legen soll; und dass deshalb, auch wenn das Fachwissen gleich ist, ein Arzt dennoch als Freund denn als Fremder größeren Nutzen bringt.


Argumentativ wendet sich Celsus gegen die communia der Methodiker mithilfe eines Verweises auf die Eigenheiten (proprietates) von Krankheiten, die sogar bei ein und demselben Menschen auftreten können (Abschnitt 71). Als Beispiel nennt er den Hunger (in Verbindung mit der ärztlichen Verordnung von Speisen), der vor dem Hintergrund eines Wechselspiels von klimatischen, körperlichen und diätetischen Faktoren unterschiedlich ertragen wird (Abschnitt 72). Im Abschnitt 73 werden zunächst zwei Arten von Ärzten unterschieden, nämlich derjenige, der die proprietates nicht kennt (propria non novit), und derjenige, der sie kennen kann (nosse proprietates potest). Ersterer muss sich auf die communia verlassen, ist aber dadurch in seiner ärztlichen Praxis beschränkt. Letzterer soll die propria als Ergänzung, nicht als alleiniges Fundament seines Handelns verwenden. Was beide Personengruppen teilen, ist demnach das Wissen über die communia, was sie unterscheidet ist das Wissen über die propria.

Wenn nun im folgenden Satz, der für Mudrys Deutung zentral ist, zu lesen ist, dass ein medicus amicus utilior ist, sofern eine scientia par (der communia) vorliegt, müssen wir die Aussage vor diesem Hintergrund anders auffassen: Der Arzt als Freund wird damit nicht zum normativen Ideal aufgrund seiner „sensibilité à la nature profonde du malade“ (Mudry 1980, S. 19), sondern Celsus stellt lediglich (äußerst knapp) fest, dass Freunde einen erleichterten Zugang zu den propria haben. Anders als ein wandernder Arzt kann der Freund wissen (vgl. oben nosse potest), welche Gewohnheiten der Patient hat, und wird daher als Beispiel ausgewählt. Daraus folgt, dass der freundschaftlichen Beziehung (zumindest von Celsus) im Zusammenhang kein Wert an sich zugeschrieben wird, sondern der eigentliche Wert des Freundesstatus für die ärztliche Behandlung sich durch die größere Menge an Wissen bestimmt, auf die jener Zugriff hat.

Die These, das freundschaftliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient sei ein besonderer Wesenszug der römischen Medizin und ein Wert an sich, ist daher zu überdenken. Zwar wurden von Mudry auch andere Passus angeführt (Scribonius Largus, Seneca), doch beruht deren jeweilige Deutung stets auf derjenigen des Celsus-Proöms.

 

Sekundärliteratur

  • Gautherie, A.: Rhétorique et thérapeutique dans le De medicina de Celse, Turnhout 2017.
  • Golder, W.: Celsus und die antike Wissenschaft, Berlin/Boston 2019.
  • Mudry, P.: Medicus amicus: un trait romain dans la médecine antique, in: Gesnerus 37/1-2 (1980), 17–20.
  • Schulze, C.: Celsus, Hildesheim/Zürich/New York 2001.

 

 

Vom 19. bis 21. November 2021 fand unter der Ägide von Prof. Dr. Salvatore Settis (Scuola Normale Superiore di Pisa) das 9. Walter-de-Gruyter-Seminar der Mommsen-Gesellschaft zum Thema „Emotions and Gestures in Greek and Roman Imagery“ in Wittenberg statt. Dr. Torsten Bendschus stellte in diesem Rahmen ein aktuelles Forschungsprojekt an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg vor, das sich der Entwicklung und Anwendung digitaler Methoden in der Analyse historischer Kunstwerke widmet.


Techniken der Computer Vision einschließlich der digitalen Bilderkennung, welche auf convolutional neural networks und damit sogenannter Künstlicher Intelligenz basiert, haben in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht und sind mit zunehmender Häufigkeit in unterschiedlichen Formen in unserem Alltag anzutreffen. Auch in den Klassischen Altertumswissenschaften wächst die Anzahl der Projekte, die neueste digitale Methoden für verschiedene fachspezifische Anwendungsbereiche erschließen, so beispielsweise die maschinelle Sprachverarbeitung für die Klassische Philologie, die automatische Typenbestimmung antiker Münzen oder die computergestützte Klassifizierung von Keramikfragmenten.

Das von der FAU Erlangen-Nürnberg im Rahmen der Emerging Fields Initiative geförderte interdisziplinäre Forschungsprojekt „Iconographics. Computational Understanding of Iconography and Narration in Visual Cultural Heritage“ beschäftigt sich in enger fächerübergreifender Zusammenarbeit aus (Digitaler) Kunstgeschichte, Klassischer Archäologie, Christlicher Archäologie und Informatischen Wissenschaften mit der noch offenen Herausforderung, Methoden der Computer Vision für die Analyse historischer Kunstwerke nutzbar zu machen.[1] In den als Fallstudien ausgewählten Ikonografien der beteiligten Disziplinen stehen dabei u. a. Figureninteraktionen, nonverbale Kommunikationsformen und Figurencharakterisierungen durch Attribute als Teile der Bilderzählung im Fokus. Die fachspezifischen Bildcorpora ermöglichen indes nicht nur diachrone wie gattungsübergreifende Vergleiche und zeigen Entwicklungen auf, sondern stellen auf Grund der starken kulturellen Vielfalt und hohen Heterogenität hinsichtlich Datenbeschaffung und -menge, Gattungen, künstlerischen Stilen etc. unterschiedliche Anforderungen an die Entwicklung der Algorithmen.

Die Forschung im Rahmen des Teilprojekts der Klassischen Archäologie unter der Leitung von Prof. Dr. Corinna Reinhardt sei anhand eines Fallbeispiels kurz vorgestellt: Das Führen und Geleiten einer Frau durch einen Krieger ist ein populäres Bildschema in der attisch-schwarzfigurigen Vasenmalerei des 6. und frühen 5. Jhs. v. Chr. Es besteht aus einer weiblichen Figur, die ihr Himation als Schleier vor dem Körper hält (ἀνακάλυψης-Gestus), und einer männlichen Figur in der Vollrüstung eines griechischen Hopliten (Abb. 1). Die nicht näher namentlich identifizierten zentralen Protagonisten sind i. d. R. flankiert von mehreren weiteren Figuren, darunter Jünglinge, Frauen, Speerträger, Bogenschützen und andere Hopliten. Zwar bleibt die Körperhaltung der Frau unverändert, jedoch erzeugen das Gegenüberstehen bzw. Voranschreiten mit rückwärtig gedrehtem Kopf des Kriegers sowie das Ausbleiben von Körperkontakt bzw. das Ergreifen der Frau an Gewand, Rücken oder Hand in den Variationen dieses Schemas unterschiedliche Dimensionen von Dominanz, Bedrohung, Nähe und Distanz, die im Narrativ des Bildes auch als emotionale Elemente verstanden werden können.


Abb. 1: Frauenführungsszene mit zentralem Krieger-Frau-Paar und flankierendem Hopliten (links) sowie Jüngling (rechts) auf einer schwarzfigurigen Halsamphora des Antimenes-Malers in London (British Museum, Inv.-Nr. 1836,0224.10), um 520 v. Chr. (Bild: © The Trustees of the British Museum)

Bereits in der schwarzfigurigen Vasenmalerei wird insbesondere das Schema des Griffs an Hand oder Handgelenk (bekannt als χεῖρ’ ἐπὶ καρπῷ) auch auf andere Szenen angewandt, die durch weitere Bildelemente als mythologische Narrative konkretisiert sind, z. B. das Führen von Polyxene durch Neoptolemos zum Grab des Achilleus oder das Ergreifen der Helena durch Theseus in Anwesenheit des Peirithoos. Während unbenannte Krieger-Frau-Paare in der rotfigurigen Vasenmalerei ab dem Ende des 6. Jhs. v. Chr. kaum noch auftreten, begegnet uns das χεῖρ’ ἐπὶ καρπῷ-Schema dort sowohl in verschiedenen Szenen mythologischer Paare (z. B. Menelaos und Helena, Peleus und Thetis oder Patroklos und Briseis) als auch in Darstellungen profaner Hochzeitsprozessionen, die die Führung der Braut durch den Bräutigam zu dessen Haus darstellen. Die stil- und kontextübergreifende Verwendung eines Bildschemas erzeugt hier Bezüge zwischen unterschiedlichen Bildwerken und half den Betrachtenden, das Verhältnis der abgebildeten Figuren im jeweiligen Vasenbild zu verstehen.

Das Fallbeispiel diente im Projekt auch dem Zweck, grundsätzliche Anforderungen an eine computergestützte Bildanalyse exemplarisch abzuleiten. Konkret sind bei diesem Schema Körperhaltung, Kopf- und Fußausrichtung der Figuren, Körperkontakt sowie Objekte (wie z. B. Waffen) als signifikante Bildelemente herauszustellen. Die digitale Erkennung all dieser visuellen Elemente ist im Rahmen des Projekts erprobt worden. Von grundsätzlicher Bedeutung ist dabei das Trainieren vorhandener Modelle, welche die digitale Bilderkennung anhand einer sehr großen Anzahl moderner Fotografien erlernt haben, auf die spezifischen Charakteristika der antiken Vasenmalerei und ihrer Ikonografien. Diesem Zweck dient einerseits ein digitaler Stiltransfer (Abb. 2) eines umfangreichen verfügbaren Bilddatensets wie COCO (Common Objects in COntext), dessen Bilder (content images) stilistisch Vasenmalereien (style images) angeglichen werden (style transfer learning). Andererseits waren dem Algorithmus zusätzlich eine Vielzahl manueller Annotationen (beschriftete Markierungen von Posen, Objekten, Figuren, …) in Vasenbildern zur Verfügung zu stellen sowie die automatisiert erstellten Resultate zu prüfen und ggf. zu korrigieren (supervised learning). Dabei wurde bewusst auf semantische Annotationen (z. B. die Markierung und Beschriftung einer ganzen Szene mit „Parisurteil“) zu Gunsten einzelner Bildelemente (wie „Schwert“, „Altar“ oder „Krieger“) verzichtet.


Abb. 2: Visualisierung des sogenannten style transfer learning (Grafik: R. Kosti & P. Madhu)

Auf diesem Weg wurde beispielsweise auf Grundlage von über 42.000 Annotationen in circa 11.000 Abbildungen von Vasenbildern eine robuste digitale Objekterkennung entwickelt, deren durchschnittliche Präzision für insgesamt 81 unterschiedliche Objekte bei circa 42% liegt.[2]

Ähnlich geschah das Training einer Posenerkennung für Figuren in antiken Vasenbildern durch das manuelle Setzen von bis zu 18 Gelenkpunkten pro Figur und deren Verbindung zu Posenskeletten.[3] Diese sogenannte pose estimation (Abb. 3) diente als Grundlage für ein testweise projektintern entwickeltes Anwendungstool, das den Nutzerinnen und Nutzern erlaubt, eine beliebige Abbildung hochzuladen, in welcher das Programm automatisch zunächst die Figuren erkennt und anschließend ihre Posen bestimmt (detections), daraufhin aus einem großen Bilderpool Vasenbilder mit ähnlichen Körperhaltungen vorschlägt (retrievals) (Abb. 4).  


Abb. 3: Die einzelnen Schritte der digitalen Posenerkennung (Grafik: R. Kosti & P. Madhu)


Abb. 4: Ein mögliches Anwendungstool: die sogenannte pose-based image retrieval application (Screenshot: R. Kosti & P. Madhu)

Anwendungsmöglichkeiten wie diese gehören zu den Potenzialen, mit denen Computer Vision-Modelle bildwissenschaftliche Forschungen unterstützen können. Sie ermöglichen das schnelle Auffinden von signifikanten Bildrelationen mittels eines Vergleichs von Körperhaltungen oder Figurenausrichtungen und –konstellationen, oder aber auch der Kombination verschiedener Bildelemente wie ein Gestus mit einem bestimmten Objekt. Eng verwandte Vasenbilder aus unserem Fallbeispiel der schwarzfigurigen Frauenführungsszenen wie auch das beobachtete stil- und kontextübergreifende Auftreten einer Geste in unterschiedlichen Ikonografien sind beispielsweise demgegenüber in den gängigen textbasierten Bilddatenbanken oft nur sehr umständlich als solche auffindbar, da die jeweiligen Einzelabfragen von den Beschreibungen und Interpretationen der Autorinnen und Autoren abhängig und selbige mitunter sehr unterschiedlich sind. Gerade für Fragestellungen wie beispielsweise zum Verhältnis der Körpersprache sogenannter Beifiguren zu jener der zentralen männlichen und weiblichen Protagonisten einer Bildhandlung in der attischen Vasenmalerei (spiegelnd/verstärkend/steigernd…), die nur anhand einer großen Materialbasis untersucht werden können, werden die Algorithmen in Zukunft gewinnbringend sein.

Die sehr anregende kritische Diskussion im Rahmen des 9. Walter-de-Gruyter-Seminars, für welche ich an dieser Stelle nochmals herzlich danken möchte, bestätigte neben dem großen Potenzial derartiger Techniken aber auch unsere Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt: Die Entwicklung digitaler Methoden und ihre jeweilige disziplinäre Einbettung setzt intensiven transdisziplinären Austausch und eingehende theoretische wie methodische Reflexion voraus. Bildmaterial wie das der Klassischen Archäologie stellt ganz eigene Anforderungen (z. B. Erhaltungszustand, Stil, Darstellungskonventionen, die Materialität des Bildträgers, …), sodass eine Beteiligung des Fachgebiets an diesen technischen Entwicklungen unabdingbar ist. Gleichzeitig fordern die neuen digitalen Methoden und ihre Nutzung aber auch eine Auseinandersetzung der Forschenden mit dem Zustandekommen der Resultate und ihrer suggerierten, aber eben nur scheinbaren „Objektivität“, sodass perspektivisch ein reflektierter Umgang mit ihnen zum Profil eines „digital classicist“ gehören wird.

Torsten Bendschus, Erlangen


Anmerkungen:

[1] Informationen zu diesem Projekt finden Sie auf der Projekthomepage: https://www.izdigital.fau.de/forschung/efi-iconographics/. Näheres zum Teilprojekt der Klassischen Archäologie erfahren Sie auf der Institutshomepage der Klassischen Archäologie an der FAU Erlangen-Nürnberg: https://www.klassischearchaeologie.phil.fau.de/projekt-iconographics/. An diesem transdisziplinären Forschungsprojekt sind Prof. Dr. Peter Bell und Dirk Suckow (Kunstgeschichte), Prof. Dr. Corinna Reinhardt und Dr. Torsten Bendschus (Klassische Archäologie), Prof. Dr. Ute Verstegen und Lara Mührenberg (Christliche Archäologie) sowie Prof. Dr.-Ing. habil. Andreas Meier, Dr.-Ing. Vincent Christlein, Dr. Ronak Kosti und Prathmesh Madhu (Informatik) beteiligt.

[2] P. Madhu et al., Deep Learning based Attribute Representation in Ancient Vase Paintings, in: Digital Humanities 2020 – Intersections/Carrefours 2020 (Ottawa 2020).

[3] P. Madhu et al., Enhancing Human Pose Estimation in Ancient Vase Paintings via Perceptually-grounded Style Transfer Learning (eingereicht).

Vor einhundert Jahren erschien mit dem Band „Wirtschaft und Gesellschaft“ das postume Hauptwerk des Heidelberger Gelehrten und Professors für Nationalökonomie, Max Weber (1864–1920). In diesem Zusammenhang unterschied Weber zwischen drei Typen der Herrschaftslegitimation: So beruhe eine `legale Herrschaft´ „auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen“. Demgegenüber basiere `traditionale Herrschaft´ „auf […] von jeher geltenden Traditionen“. Die „Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft einer Person“ schließlich bilde die Grundlage `charismatischer Herrschaft´. Kennzeichnend sei dabei im Gegensatz zu den beiden anderen Typen vor allem eine „außeralltägliche“ Begründung des Charismas, etwa durch die Bewährung des Machthabers in einer Krisensituation wie insbesondere im Krieg beziehungsweise durch seine Annäherung an die göttliche Sphäre. In der Folgezeit wurde vor allem die Kategorie der charismatischen Herrschaft in der althistorischen Forschung verwendet, um spezifische Merkmale der hellenistischen Monarchien sowie des römischen Prinzipats zu beschreiben[1]. Die nachstehenden Überlegungen sollen vor diesem Hintergrund aufzeigen, inwiefern sich aus der Weber´schen Typologie auch in Hinblick auf die archäologische Überlieferung eine gewinnbringende Perspektive entwickeln lässt. Als Beispiel bietet sich in diesem Zusammenhang ein Monument an, dessen politischer Charakter in der jüngeren Forschung grundsätzlich unumstritten ist und das aufgrund von Umfang und Komplexität seiner Bildsprache zugleich optimale Voraussetzungen für eine entsprechende Untersuchung bietet: der Pergamonaltar[2].


Abb. 1 Pergamonaltar. Rekonstruktion der westlichen Front im Berliner Pergamonmuseum (Foto: wikipedia / Jan Mehlich CC BY-SA 3.0).

Der wohl in den Jahren zwischen 180 und 160 v. Chr. unter dem König Eumenes II. errichtete Pergamonaltar bildet seit seiner Entdeckung ein herausragendes Beispiel für die hellenistische Kunst im unmittelbaren Umfeld eines machtpolitisch ambitionierten Herrscherhauses. Dabei standen seit jeher insbesondere die beiden an dem Monument angebrachten Friese im Zentrum des Interesses. Während den monumentalen Sockel eine umlaufende Darstellung der Gigantomachie zierte, zeigt ein ursprünglich im Inneren angebrachter kleinerer Fries die Taten des mythischen Heros Telephos (Abb. 1). Die auffällige Diskrepanz, die für die beiden Friese des Monuments vor allem in Stil und narrativer Struktur kennzeichnend ist, wurde von der archäologischen Forschung schon früh beobachtet und seither vielfach beschrieben. Charakteristisch für den großen Fries sind die markante Relieftiefe, die die überlebensgroßen Figuren annähernd rundplastisch erscheinen lässt, sowie Stilformen, deren Dynamik und Pathos häufig als typische Merkmale hochhellenistischer Skulptur angeführt werden (Abb. 2). Das Relief des Telephosfrieses ist demgegenüber auffallend flach, die Figuren deutlich unterlebensgroß, die Darstellung in der Verwendung von Landschaftsangaben und Attributen hingegen teilweise deutlich detaillierter (Abb. 3). Darüber hinaus zeichnen sich beide Friese durch eine unterschiedliche narrative Struktur aus: Während der Kampf der Götter gegen die Giganten im Großen Fries als ein einziges synchrones Geschehen visualisiert wird, erzählt der Telephosfries die Vita des Heros in zahlreichen aufeinander folgenden Episoden. Die Archäologie hat für die hier skizzierten Eigenheiten der beiden Friese unterschiedliche Erklärungen gefunden. So wurden die markanten Unterschiede in der älteren Forschung vor allem als Ausdruck einer stilistischen Entwicklung verstanden. Der weiter unten am Bau und mithin zu einem früheren Zeitpunkt gestaltete Gigantomachiefries spiegelt dieser Auffassung nach Stilformen der hochhellenistischen Zeit, während für den wohl ein bis zwei Jahrzehnte jüngeren Telephosfries bereits eine als typisch späthellenistisch empfundene Formensprache verwendet worden sei. Erst in jüngeren Arbeiten konnte sich demgegenüber die Auffassung durchsetzen, dass sich die Divergenzen nicht primär autonomen stilgeschichtlichen Entwicklungstendenzen verdanken, sondern vielmehr unmittelbar mit den unterschiedlich gelagerten Themen der beiden Friese zu verbinden sind und sich somit als integraler Bestandteil der Bilder erklären lassen.

 


Abb. 2 Pergamonaltar, Gigantomachiefries. Zeus im Kampf gegen drei Giganten, am linken Bildrand die Löwentatze vom Umhang des Herakles (Foto: © Antikensammlung, SMB / Johannes Laurentius).

Im vorliegenden Zusammenhang erscheint nun auffällig, dass die unterschiedlichen Bildthemen der beiden Friese unmittelbar mit zwei der drei von Weber definierten Typen von Herrschaftslegitimation korrespondieren. Auf der einen Seite steht dabei die martialische Auseinandersetzung zwischen Göttern und Giganten, die sich bereits in thematischer Hinsicht unschwer als Spiegelbild des von Weber beschriebenen Typus charismatischer Herrschaftslegitimation verstehen lässt, dem ein gänzlich „außeralltägliches“ Geschehen zugrunde liegt. Auf der anderen Seite steht die Legitimation von Herrschaft durch Bezugnahme auf traditionale Strukturen, im vorliegenden Fall unter Verweis auf die Abkunft der attalidischen Dynastie von Telephos und dessen Vater Herakles. Die Figur des Herakles bildete dabei augenscheinlich eine Klammer zwischen beiden Friesen, da der Held auch in der Gigantomachie an prominenter Stelle neben Zeus am Kampf beteiligt war. Vor dem Hintergrund der etablierten Deutung des Altars erscheint diese Konvergenz der beiden Bildthemen mit unterschiedlichen Typen des Weber´schen Modells besonders auffällig. Versteht man den Altar als ein Monument, mit dem Herrschaftsauffassung und -anspruch der Attaliden sinnfällig zum Ausdruck gebracht werden sollten, so lassen die Themen der beiden Friese die doppelte Grundlage dieser Herrschaft erkennen: traditional unter Bezugnahme auf den mythischen Ahnherren der Dynastie, charismatisch durch Verweis auf die militärische Sieghaftigkeit, die in Analogie zum Sieg der Götter über die Giganten als eine unanfechtbare Überlegenheit sowie als Grundlage der bestehenden Ordnung konzeptualisiert wurde.

 

Abb. 3 Pergamonaltar, Telephosfries. Herakles findet seinen in der Wildnis ausgesetzten Sohn Telephos (Foto: © Antikensammlung, SMB / Johannes Laurentius).

Legt man diese bereits in den Bildthemen fassbare Konzeption des Monuments zugrunde, so erscheinen darüber hinaus auch die formalen stilistischen und erzählerischen Unterschiede zwischen beiden Friesen in neuem Licht. Wie in der jüngeren Forschung verschiedentlich betont, korrespondiert dabei der pathetisch-dynamische Stil des großen Frieses mit der Auffassung von der Gigantomachie als einer Auseinandersetzung von kosmischen Dimensionen, während der in nüchternen Stilformen gehaltene Telephosfries die Biographie des Heros in einer betont sachlichen Schilderung vor Augen führt. Auch die erzählerische Anlage der beiden Friese entspricht dieser Konzeption. Das „außeralltägliche“ Geschehen des Götterkampfes vollzieht sich vor den Augen des Betrachters scheinbar in einem einzigen Augenblick, wobei der Kampf in eine Reihe komplexer, ausgesprochen detailreicher Kampfgruppen untergliedert wird. Der in ihrer Dimension und Bedeutung vollkommen einmaligen, „außeralltäglichen“ Auseinandersetzung entspricht somit die synchrone Darstellungsform in Form eines einzigen monumentalen Kampfgeschehens. Demgegenüber schildert der Telephosfries die Biographie des Helden in einer Abfolge von zahlreichen Szenen, die die unterschiedlichen Taten des Heros zum Gegenstand haben. Die narrative Konzeption korrespondiert dabei gleich in zweierlei Hinsicht mit dem von Weber beschriebenen Prinzip der traditionalen Herrschaftslegitimation. Zum einen werden in der expliziten Darstellung von Herakles und der mythischen Athena-Priesterin Auge die Abkunft des Telephos und mithin der dynastische Aspekt des Mythos manifest. Zum anderen ergibt sich aus der mehrszenigen Anlage des Frieses eine Erzählweise, deren grundlegendes Prinzip ganz analog zum traditionalen dynastischen Herrschaftsmodell die chronologische Abfolge der einzelnen Szenen bildet. In der unterschiedlichen narrativen Konzeption der beiden Friese spiegeln sich damit nicht zuletzt maßgebliche Charakteristika der beiden von Weber beschriebenen Typen von Herrschaft: der Rekurs auf die ebenso herausragende wie einmalige Leistung der Herrscher durch Konzentration auf ein singuläres Schlachtgeschehen einerseits, der Verweis auf eine altehrwürdige, in vielen Stationen nachvollzogene dynastische Tradition andererseits.

Die hier für die beiden Friese des Pergamonaltars wahrscheinlich gemachte Kombination unterschiedlicher Formen der Herrschaftslegitimation ist im Zusammenhang der Konzeption des Weber´schen Modells besonders signifikant. So beschrieb Weber selbst die von ihm definierten Typen als abstrakte Kategorien, die in der historischen Realität nur selten in Reinform zu beobachten seien. Vielmehr sei die Vermischung unterschiedlicher Formen der Herrschaftslegitimation in unterschiedlichen politischen Systemen sowie in verschiedenen historischen Epochen die Regel gewesen. Versteht man den Pergamonaltar vor diesem Hintergrund als Ausdruck der attalidischen Herrschaftsauffassung, so wird offensichtlich, dass der Herrschaftsanspruch der Dynastie unter Eumenes II. gezielt auf zwei unterschiedliche Quellen der Legitimation zurückgeführt wurde, die sich komplementär ergänzten. Besonders eindrücklich manifestiert sich diese Konzeption in der Figur des Herakles, der einerseits als einziger Heros auf der Seite der Götter an der Gigantomachie beteiligt war, andererseits als Vater des Telephos zum Vorfahren der Attalidendynastie stilisiert wurde. In ihrer unterschiedlichen erzählerischen Anlage und stilistischen Ausgestaltung bilden die beiden Friese des Pergamonaltars somit ein anschauliches Beispiel für das programmatische Zusammenspiel von formaler Gestalt, narrativer Struktur und inhaltlicher Konzeption. Zugleich fällt ins Auge, wie sehr sich Eumenes II. der unterschiedlichen Möglichkeiten von Herrschaftslegitimation bewusst war und diese an dem Monument gezielt zur Anschauung bringen ließ. Das Beispiel des Pergamonaltars illustriert somit nicht zuletzt, wie das von Weber etablierte Modell auch nach 100 Jahren für die Analyse von (antiken) Herrschaftsstrukturen und -konzeptionen bereichernd wirken kann.

Burkhard Emme, Berlin

Anmerkungen:

[1] Für die hellenistischen Monarchien H.-J. Gehrke, Der siegreiche König. Überlegungen zur hellenistischen Monarchie, Archiv für Kulturgeschichte 64, 1982, 247–277; dazu kritisch H.-U. Wiemer, Siegen oder untergehen? Die hellenistische Monarchie in der neueren Forschung, in: S. Rebenich, Monarchische Herrschaft im Altertum (Berlin 2017) 305–339; für einen Überblick zur Verwendung des Begriffs in der althistorischen Forschung vgl. B. Näf, Das Charisma des Herrschers. Antike und Zeitgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jhs., in: D. Boschung – J. Hammerstaedt (Hrsg.), Das Charisma des Herrschers (Paderborn 2015) 11–52; für die Anwendung der Weber´schen Kategorien in der archäologischen Forschung mit Blick auf die Herrschaftslegitimation der römischen Kaiser vgl. den Beitrag von D. Boschung im selben Band sowie zuletzt T. Hölscher, Krieg und Kunst im antiken Griechenland und Rom. Münchner Vorlesungen zu Antiken Welten 4 (Berlin 2019) 334–336 (dort mit einem leicht modifizierten Modell).

[2] Aus der umfangreichen Literatur zum Pergamonaltar seien im Folgenden nur wenige grundlegende Publikationen genannt: H.-J. Schalles, Der Pergamon-Altar zwischen Bewertung und Verwertbarkeit (Frankfurt a.M. 1986); W.-D. Heilmeyer (Hrsg.), Der Pergamonaltar. Die neue Präsentation nach Restaurierung des Telephosfrieses (Tübingen 1997); F. Queyrel, L'autel de Pergame. Images et pouvoir en Grece d'Asie, Antiqua (Paris 2005); F.-H. Massa-Pairault, La Gigantomachie de Pergame ou l´image du monde, BCH Suppl. 50 (Paris 2007); A. Scholl, Ὀλυμπίου ἔνδοθεν αὐλή – Zur Deutung des Pergamonaltars als Palast des Zeus, JdI 124, 2009, 251–278.

Prolegomena zu einer temporalen Geschichte der römischen Expansion als Gewaltunternehmung

(Werner Riess, Universität Hamburg)


Im Teilprojekt 2 der von der Hamburger Landesforschungsförderung finanzierten Forschungsgruppe „Gewalt-Zeiten“ geht es um die Eroberung von Städten im antiken und spätmittelalterlichen Mediterraneum aus zeitlicher Perspektive (TP 2: Einnahme von Städten : Forschungsgruppe Gewalt-Zeiten : Universität Hamburg (uni-hamburg.de)). In einem Teil des Projekts soll der heuristische Wert eines zeithistorischen Interpretationsansatzes für eine Neuerklärung der Geschichte der römischen Expansion gezeigt werden. Die folgenden Ausführungen sind nicht als Präsentation von Ergebnissen zu verstehen, sondern skizzieren vielmehr Prolegomena in Form von Fragen, die andeuten, welche unterschiedlichen Richtungen derart ausgerichtete Forschungen nehmen können.

Die Expansion Roms vom Stadtstaat zu einem Weltreich wurde in der Forschung vielfach analysiert. Dabei wurde meist die räumliche Dimension dieser bis dahin ungekannten territorialen Erweiterung thematisiert. Doch es fehlen bislang Studien, die sich spezifisch mit Strukturen der Zeitlichkeit in diesem oftmals blutigen Prozess auseinandersetzten. Dies erstaunt umso mehr, als in engem Zusammenhang mit dem spatial turn mittlerweile der temporal turn steht, d.h. die Betrachtung historischer Phänomene sub specie temporis. Im Kontext des Rahmenthemas „Gewalt-Zeiten. Temporalitäten von Gewaltunternehmungen“ erscheint es daher als ein Forschungsdesiderat, die Geschichte der römischen Expansion unter diesem Blickwinkel neu zu erzählen, als ein Jahrhunderte währendes Gewaltunternehmen, das in ganz entscheidender Weise durch Zeitlichkeit geformt und immer wieder auch dynamisiert wurde. Vereinfacht gesprochen geht es darum, wie Gewalt im Hinblick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeitlich konzeptualisiert und ausgeübt wird. Wir gehen davon aus, dass Gewalterfahrungen, Gewaltkonzepte, konkrete Gewaltpraxen sowie auch Antizipationen von Gewalt im Wesentlichen auch temporal moduliert werden. Temporalität wird dabei zum einen begriffen als konstitutives Element in subjektiven Erinnerungsformen, in gegenwärtigen Gewalterfahrungen sowie in Gewalterwartungen durch die Akteurinnen und Akteure, womit Täter wie Opfer gemeint sind. Zum anderen baut auf diesen subjektiv geprägten Gewaltwahrnehmungen Temporalität auch als handlungsleitender Aspekt auf, als ein Gewalt in vielfältiger Weise strukturierendes Element, das unter Umständen auch als direktes Instrument des Gewalthandelns dienen kann. Anders formuliert, beeinflussen also jeweils kulturspezifische Zeitwahrnehmungen auch die konkrete Ausübung von Gewalt und damit auch ihre Erscheinungsformen.

Als Anwendungsbeispiel wollen wir einige zeitliche Strukturen des Krieges, den Caesar in Gallien führte, etwas genauer beleuchten. Caesars Bellum Gallicum, seit Jahrzehnten Schullektüre und v.a. in Blick auf die Selbstdarstellung Caesars hin befragt, harrt einer zeithistorischen Untersuchung. Drei Präliminarien seien vorausgeschickt: (1) Caesar war nicht nur Augenzeuge und Berichterstatter über die von seinen Legionen in Gallien ausgeübte Gewalt, sondern selbst Gewalt-Akteur und aufgrund der Dimensionen der Kämpfe auch Gewaltunternehmer im Sinne des Projektantrags. (2) Die jahrelangen Kämpfe bedingten auf keltischer wie römischer Seite umfangreiche zeit-räumliche Planungen, so dass Caesar als Feldherr auch als Zeit-Manager gelten kann. (3) Obgleich der Caesarische Bericht eine Selbstrechtfertigung vor dem Senat und somit eine Propagandaschrift darstellt, sind seine Ausführungen durchaus ernst zu nehmen, denn sie mussten für seine Leser plausibel sein. Die Kämpfe dauerten von 59 bis 52 v. Chr., am Ende war das bis dato freie Gallien (die sog. Gallia Comata) von den Römern erobert und wurde provinzialisiert.

Caesars Text ist von Zeitangaben durchtränkt. Strategische wie taktische Überlegungen und Aktivitäten unterliegen einer Vielzahl zeitlicher Parameter. Caesars Prokonsulat in Gallien selbst war zeitlich beschränkt, in der kalten Jahreszeit zogen sich die Truppen zumeist in Winterlager in Norditalien zurück, Nahrungsmittel- und Materialversorgung mussten über große Distanzen hinweg sichergestellt werden. Schon aus diesen Gründen war Caesar zeitlich „unter Druck“, während die Kelten in der Tiefe des Raums siedelten, über bessere Ortskenntnisse verfügten und den Römern auch durch Guerilla-Taktiken zusetzten, sie also für ihre Defensive mehr Zeit hatten als Caesar mit seinen Angriffen. Der Gallische Krieg kann also durchaus auch als ein Kampf um die „Ressource Zeit“ beschrieben werden. Durch die technische Überlegenheit der römischen Ingenieure und Pioniere setzte sich Caesar schließlich in den Besitz der Zeit und oktroyierte den Galliern sein Zeitregime auf. Durch unerwartete, rasche Vorstöße, Gewaltmärsche und Galliern wie Germanen neuartige Brückenbauten über den Rhein konnte Caesar Kampfhandlungen (unter günstigen Umständen) nach Belieben beschleunigen. Dabei war die ostentative Zurschaustellung römischer technischer Überlegenheit auch Teil der psychologischen Kriegsführung Caesars. Die Beschleunigung wurde in ihrer beinahe theatralisch in Szene gesetzten Performanz (z.B. bei der Rheinüberschreitung) also zu einer physischen wie psychischen Waffe des Zeit-Organisators Caesar.

Andererseits dürfen die spektakulären Einzelaktionen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie vielleicht gerade deswegen notwendig waren, weil Caesar permanent zeitlich überfordert war und sie dazu dienen sollten, den Mangel an Zeit auf Seiten der Römer zu kompensieren und auch zu verschleiern. Dem Text merkt man an, dass Caesar nur dort vor Ort war und sein konnte, wo sein Eingreifen aufgrund von Notlagen unbedingt nötig war. Parallelaktionen, die schwierig zu synchronisieren waren und die offenbar weniger die Aufmerksamkeit des Feldherrn beanspruchten, wurden an untergeordnete Kommandeure delegiert. Caesar priorisierte also zeitlich seine Präsenz an bestimmten Schauplätzen, entweder um Notfälle zu verhindern, zu beheben oder, um in Schlüsselmomenten (und an Schlüsselorten) die Weichen für nachfolgende militärische Erfolge zu stellen.

Betrachtet man die Sequenz der Ereignisse, die Caesar sich bemüht auf narrativer Ebene logisch und organisch auseinander hervorgehen zu lassen, so drängt sich oftmals der Eindruck auf, dass er mehr reagierte als agierte, jedoch nicht immer, um Römer oder keltische Verbündete zu verteidigen, wie er dem Leser glauben machen will, sondern weil er von den Feinden von einer ad hoc-Maßnahme zur nächsten getrieben wird. Die Frage stellt sich, ob sich aus den vielen Einzelaktionen überhaupt ein „Krieg“ erschließen lässt oder ob am Ende eine lange Aneinanderreihung von Aktionen und Reaktionen, von Märschen, Überfällen, Schlachten und Scharmützeln den gallischen Widerstand schließlich versiegen ließ. Ist der „Gallische Krieg“ letztlich ein narratives Konstrukt Caesars, das ex post jahrelangen römischen Offensivhandlungen „Sinn“ verleiht? Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage nach den Kriegszielen Caesars neu: Ab wann hatte Caesar die Eroberung „ganz Galliens“ wirklich vor Augen? In seinem Bericht erfahren wir davon nichts. Caesar eilt siegreich von Schauplatz zu Schauplatz und verbirgt hinter der Schilderung einer raschen Ereignisabfolge all die Unwägbarkeiten und das Nicht-Planbare seiner Militäroperationen.

Ein weiteres Indiz für die (zeitliche) Überforderung der Römer ist die oftmals exzessive Gewalt, die sie gegenüber der Zivilbevölkerung ausüben. Immer wieder ist davon die Rede, wie Dörfer geplündert und niedergebrannt, die Einwohner massakriert bzw. versklavt werden. Die Opferzahl am Ende des Gallischen Krieges wird auf ca. eine Million Menschenleben geschätzt. Jüngere Forschungen, insbesondere von Gabriel Baker (2021), zeigen, dass Greueltaten von römischer Seite keineswegs immer nur spontane und willkürliche Aktionen waren, in denen Soldaten ihre Affektkontrolle verloren, sondern auf Befehl, d.h. bewusst und kalkuliert eingesetzt wurden, um die Moral der Gegner zu brechen. Zahlreiche Beispiele aus den Expansionskriegen zeigen, dass Römer immer dann zu extremer Gewalt griffen, wenn sie mit der spezifischen Kampfweise und Taktik der Feinde nicht zurechtkamen (z.B. Samniten, Numider, Lusitaner in Hinterhalten, Nachtangriffen, Guerilla-Taktiken), sie also erhebliche Frustrationserfahrungen machen mussten. Gewaltexzesse, die im Grunde nicht der virtus militaris der Römer entsprachen, spiegeln also hoffnungslose Situationen der römischen Heere wider, Bedrohungslagen, welche gerade den jeweiligen Feldherren unter Druck setzten; die lange Dauer von Konflikten gefährdete seine Sieghaftigkeit und damit seinen innenpolitischen Ruf. Vor diesem Hintergrund sind die Caesarischen Schilderungen der oftmals entgrenzten Gewaltausübung seiner Soldaten das beste Zeugnis für seine Überforderung wie auch die seiner Truppen, gerade auch in zeitlicher Hinsicht.

Als bei Alesia am Ende alles auf dem Spiel stand und die Römer einen Zweifrontenkampf bestehen mussten (gegen die Belagerten im oppidum sowie das anrückende gallische Entsatzheer), sehen wir das Einbrechen von Kontingenz: Plötzlich verhielt sich das Entsatzheer inaktiv! Die Gründe hierfür sind bis heute umstritten. Deyber – Romeuf (2019) postulieren für die Nacht vom 25. auf den 26.9.52 v. Chr. eine Mondfinsternis, deretwegen ca. zwei Drittel des gallischen Entsatzheeres aus religiösen Gründen die Kampfhandlungen einstellten. Caesar erwähnt (wohlweislich?) diesen extremen Zufall nicht. Träfe er zu, würde er den „Erfolg“ Caesars und seiner Truppen in nicht unerheblichem Maße relativieren.

Hatte sich Caesar entgegen seines sonstigen militärischen Instinkts bei Alesia in eine hoffnungslose Lage hineinmanövriert? War man am Ende nur noch dankbar, dass man äußerst knapp der Katastrophe entronnen war? Eine Anomalie könnte darauf hindeuten: Anders als bei den meisten Belagerungen der Antike hören wir nach der Kapitulation des Vercingetorix nicht von der Plünderung und Zerstörung Alesias. Der römische Triumph wird in diesem Fall anders und nachhaltiger ausgedrückt: Aus Alesia wird eine Stadt römischen Zuschnitts, die in den folgenden Jahrhunderten nur noch von regionaler, sekundärer Bedeutung ist.

Lektüre:
Deyber, A. – Romeuf, D., Les derniers jours du siège d’Alésia: 22-27 septembre 52 av. J.-C., Paris 2019.
Baker, G., Spare No One. Mass Violence in Roman Warfare, New York – London 2021.

Im Hippokratischen Eid heißt es, dass ein Arzt diejenigen nicht schneiden solle, die an Steinen leiden (λιθιῶντας, Hippokr. Iusiur. 5). Seit jeher wird in der Forschung kontrovers diskutiert, ob hippokratische Ärzte gar nicht operiert und sich nur für die verborgenen, inneren Krankheiten zuständig gefühlt haben. Außer Frage steht indessen, dass es sich bei dem Steinleiden um Blasensteine gehandelt hat. Für Plinius (23/24–79 n.Chr.) war es die schlimmste aller Krankheiten (Plin. Nat. Hist. XXV 23), weil sie unerträgliche Schmerzen mit sich brachte. Aulus Cornelius Celsus (um 25 v.Chr.–50 n.Chr.) beschreibt ausführlich das Procedere des sogenannten Steinschnittes (Cels. VII 26,2).

Dass jeder einen eigenen Blick auf die Quellen hat, wurde mir wieder bewusst, als ich den Eid mit meinem Vater diskutierte. Als Chirurg dachte er bei den λιθιῶντες an Patienten, die nicht an Blasen-, sondern an Gallensteinen litten. Es stand die Frage im Raum, wie die antike Medizin vor Bildgebung, Antisepsis und Narkose diagnostisch und therapeutisch mit Gallensteinleiden umgegangen war. Nach Konsultation der einschlägigen medizinhistorischen Forschung stellte sich jedoch schnell heraus, dass schon allein die Kenntnis von Gallensteinen an sich nicht verbreitet war, geschweige denn eine chirurgische Therapie.

Für die gesamte griechisch-römischen Antike gibt es keinen literarischen Beleg für die Kenntnis von Gallensteinen beim Menschen (Ursin et al. 2018). Zwar kannte Aristoteles (384–322 v.Chr.) in Analogie zu Nierensteinen in geschlachteten Opfertieren auch Steine in Galle oder Magen (Arist. PA IV,2 667a35-667b7 p. 71-72 Kullmann), es dauerte aber bis zu Alexander von Tralleis (um 525–605), dass der Satz geschrieben wurde: „Wenn die Säfte zu sehr eingetrocknet und übermäßig ausgedörrt sind, so liegen sie in der Geschwulst wie Steine […].“ (Alex. Trall. 384 Puschmann). Zwischen Aristoteles und Alexander gab es zahlreiche Andeutungen und Vermutungen innerhalb der medizinischen Fachliteratur, die im galenischen Krankheitsbild der Leberverstopfung mündeten (Galen De locis affectis II 9,16 Gärtner).

Die Verstopfung der Leber durch Koagulation von Gallensaft wird von Galen (129–um 216) in Analogie zu seiner Theorie über die Entstehung von Nierensteinen erörtert, die er sich als über längere Zeit verdickte Säfte vorstellt (Galen De locis affectis I 1,28 Gärtner). Die Leberverstopfung beschreibt er genauer (Galen De sanitate tuenda 1,13 = 4,1,70-71 Kühn):

„[…D]ie Schwäche der ganzen an der Leber liegenden Blase oder der von ihr in die Eingeweide führenden Mündungen und der in die Därme führenden Wege kann plötzliches Übelsein hervorrufen […]. Die Verengung ist Folge von Entzündung oder Verhärtung, Verstopfung oder Druck von der Umgebung oder Verschluss der Öffnung. Der Druck von der Umgebung her kann durch die übermäßige Menge des Inhalts oder durch Entzündung oder Verhärtung entstehen, wie auch der Verschluss eben dadurch und durch Trockenheit.“ (Übers. v. Beintker 1939, S. 51-52)

Diese ätiologischen Überlegungen müssen vor dem Hintergrund humoralpathologischer Vorstellungen verstanden werden. Tatsächlich sind sie nah an der modernen Erklärung, dass sich Gallensteine durch übersättigte Gallensäfte an Kristallisationskeimen in Gallenblase oder -gängen bilden. Übrigens ist die Welt der Gallensteine nicht nur schmerzhaft, sondern auch überraschend bunt: Cholesterolsteine (90% aller Steine) sind mit ihrem großen Anteil an Calciumcarbonat zwar eher hell, die Pigmentsteine aus Bilirubin changieren aber zwischen schwarz, grün, gelb und braun.

Machen wir es kurz: Griechen und Römer kannten zwar die Symptome von Gallensteinleiden, die sie ätiologisch auf eine mechanische Obstruktion der Gallengänge zurückführten und schließlich Leberverstopfung nannten, aber Gallensteine kannten sie nicht. Litten Griechen und Römer etwa nicht wie wir heute an Gallensteinen? Erst in der Renaissance tritt Johannes Kentmann (1518–1574) als Erster mit einem eigenen Steinbuch hervor, in welchem er auch Gallensteine beschreibt und abbildet (Abbildung 1 und 2).

                        

Abbildung 1 und 2: Johannes Kentmann: Calculorum, qui in corpore ac membris hominum innascuntur, genera XII. Tiguri 1565, fol. 5v und 6v. URL: https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=ucm.5326978548&view=1up&seq=20

 

Der Medizinhistoriker Rudolph Siegel hatte vermutet, dass Gallensteine in der Antike schlicht seltener waren als heute (Siegel 1968, S. 252f.). Er begründet dies damit, dass Gallensteine typischerweise bei älteren Menschen auftreten und in der Antike den Meisten ein früher Tod beschieden war. Außerdem gebe es genetische Faktoren, und die Diät ärmerer Griechen und Römer sei schlicht gesünder als die der heutigen Zeitgenossen gewesen. Galen hätte außerdem – wenn überhaupt – für post mortem sectiones nur Zugang zu Leichnamen ärmerer Menschen gehabt.

Wir wissen, dass menschliche Leichname in der Antike höchst selten obduziert wurden und wenn, dann hatten die Berichte darüber (und über Vivisektionen) die Funktion abschreckender Schauergeschichten (Cels. prooem. 23-25). Die Kenntnis der menschlichen Anatomie wurde stattdessen überwiegend per Analogie zur Anatomie von Affen und Schweinen erschlossen. Die Zurückhaltung gegenüber post mortem sectiones erklärt sich auch durch das religiöse Tabu, die Integrität des menschlichen Leichnams nach dem Tod nicht zu beeinträchtigen. Wir haben es also mit einem epistemologischen Problem zu tun: Weil niemand nachgeschaut hat, hat auch niemand etwas gefunden.

Die diskutierten Quellen und Spekulationen bringen uns vorerst nicht weiter, doch glücklicherweise ist die antike Medizingeschichte mehr als die Literaturgeschichte medizinischer Fachtexte. Haben Archäologinnen und Archäologen vielleicht in Gräberfeldern Gallensteine gefunden? Der Blick in die paläopathologische Fachliteratur ließ mich enttäuscht zurück: Lediglich fünf Individuen im Mittelmeerraum werden beschrieben, bei denen etwa durch röntgenologische Untersuchungen Gallensteine festgestellt wurden, darunter übrigens auch die älteste bekannte Feuchtmumie: Ötzi war Träger von Gallensteinen. Die anderen Funde wurden in einem mykenischen Grab und in drei ägyptischen Mumien gemacht. Was diese Funde verbindet ist, dass sie entweder in situ gefunden wurden oder Körperbestattungen darstellten.

Als ich die Ergebnisse meiner Forschungen 2017 auf einer Tagung des internationalen Arbeitskreises Alte Medizin in Mainz vorstellte, meldete sich nach meinem Vortrag ein ausgewiesener Archäologe. Er berichtete von umfangreichen Funden von Gallensteinen bei seinen letzten Grabungen auf Kreta. Aber wie habt ihr sie gefunden, fragte ich. Seine Antwort verwies auf das eben erwähnte epistemologische Problem: Man habe auch nach Gallensteinen gesucht. Den Arbeiterinnen und Arbeitern wurde ein klimperndes Gläschen voll mit den entsprechenden Steinen als Muster präsentiert und anschließend wurden sie auch gefunden. Tatsächlich ist es nicht leicht, nach den in der griechisch-römischen Antike weitaus häufigeren Feuerbestattungen unter den Überresten auch Gallensteine zu finden. Frei nach Matthäus (7,8): Wer Gallensteine sucht, der findet sie.

 

Zitierte Literatur und Quellen

Beintker, Erich: Die Werke des Galenos. Bd. 1. Galenos Gesundheitslehre Buch 1-3. Stuttgart 1939.

Galenus; Gärtner, Florian (Hg.). Galeni De locis affectis I–II: Edidit, in linguam Germanicam vertit, commentatus est. Berlin, Boston 2015.

Puschmann, Theodor: Alexander von Tralles. Original-Text und Übersetzung nebst einer einleitenden Abhandlung. Ein Beitrag zur Geschichte der Medicin. 2 Bde. Amsterdam 1878–1879.

Siegel, Rudolph E.: Galen’s system of physiology and medicine. Basel 1968.

Ursin, Frank; Steger, Florian: Gallensteine und “Leberverstopfung“ in den medizinischen Fachschriften der Antike. In: Zeitschrift für Gastroenterologie 56(3), S. 249–254. https://doi.org/10.1055/s-0043-120349

 

Dr. Frank Ursin
Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der Medizin
Medizinische Hochschule Hannover (MHH)
Wissenschaftliches Profil (Link)

Die Folgen der Corona-Pandemie beraubten unseren diesjährigen Bruno-Snell-Preisträger der Möglichkeit, seine prämierte Arbeit auf der Großen Mommsen-Tagung vorzustellen. Dies wird er im Juni 2022 in Köln nachholen. Hier schon einmal ein erster Einblick.


Im klassischen Athen kursierten vergleichsweise konkrete Vorstellungen zur eigenen Frühzeit: Der athenische König Theseus hätte ganz Attika in einem ›Synoikismos‹ vereint (Thuk. 2, 15, 1 f.). Im mittleren 11. Jh. v. Chr. sei das Königtum zugunsten eines ›Archontats auf Lebenszeit‹ abgeschafft worden, dieses dann 753 v. Chr. auf zehn Jahre verkürzt sowie schließlich 683/682 v. Chr. in ein jährlich neu besetztes Amt umgewandelt worden. Diese Entwicklung ist bereits lange als ein Konstrukt klassischer Zeit erkannt, das wenig über die tatsächlichen Verhältnisse aussagt. Generell lässt sich anhand der schriftlichen Quellen für den Zeitraum vor dem 6. Jh. v. Chr. kein sonderlich komplexes Bild der Geschichte Athens und Attikas zeichnen: Die Überlieferung vom Putschversuch des Kylon hat zwar sicherlich einen wahren Kern, doch ist ihre bei Herodot und Thukydides überlieferte Form (Hdt. 5, 71; Thuk. 1, 126, 3–11) Verhältnissen und Erwartungen der klassischen Zeit verpflichtet; auch das traditionelle Datum um 630 v. Chr. ist aufgrund seiner Abhängigkeit von späteren chronologischen Konstruktionen wenig verlässlich. Ähnliches gilt für das Gesetz des Drakon, das zwar als frühester erhaltener Ausschnitt der athenischen Rechtsprechung von großem Wert ist, je nach Lesweise jedoch ganz unterschiedliche Rückschlüsse auf den Institutionalisierungsgrad in früharchaischer Zeit zulassen kann. Selbst die auf den ersten Blick verlässlich anmutenden Narrative im Zusammenhang mit Solon erscheinen seit Zweifeln an der solonischen Urheberschaft der ›solonischen‹ Gedichte und Gesetze problematisch. Wer sich an einer Rekonstruktion jener längerfristigen gesellschaftlichen Formierungsprozesse versuchen möchte, die in Athen und Attika in der frühen Eisenzeit und der früharchaischen Zeit, also im 11. bis frühen 6. Jh. v. Chr. anzunehmen sind, muss sich demnach den archäologischen Quellen zuwenden. Eben diese stehen im Zentrum der hier vorgestellten Arbeit, die 2019 als Dissertation im Fach Klassische Archäologie an der Universität Tübingen abgeschlossen wurde und Ende September 2021 erscheinen wird.

Einen ersten Schwerpunkt des Buchs stellt die Siedlungsgeschichte dar; dafür wird ein geographisch gegliederter Überblick über die publizierten Befunde gegeben. Auf dieser Grundlage wird die Siedlungsstruktur kleinräumig analysiert und die Besiedlungsgeschichte diachron ausgewertet. Dabei zeichnet sich ab, dass der erste Teil der frühen Eisenzeit auch aufgrund von Problemen der archäologischen Sichtbarkeit schwer zu fassen ist, doch bereits im späten 10. Jh. v. Chr. ganz Attika besiedelt ist und die folgenden Jahrhunderte eine sukzessive Verdichtung erkennen lassen. Dem Konzept einer von ihrem vermeintlichen Zentrum ausgehenden ›Binnenkolonisation‹ Attikas kann dabei die These kleinteiliger dezentraler Verdichtungsvorgänge entgegengesetzt werden.

Im Anschluss werden die Nekropolen und die Heiligtümer diachron auf Indizien gesellschaftlicher Transformationsprozesse befragt. Die kontinuierlich hohe Variabilität in den Gräbern spricht für eine fortgesetzte Konkurrenz von Bestattungsgruppen mit variierenden repräsentativen Strategien sowie eine große Instabilität der beständig neu ausgehandelten gesellschaftlichen Vorrangstellungen. Schwankungen in der Zahl der überlieferten Gräber erlauben keine direkten Rückschlüsse auf die ›Entstehung der Polis‹, sondern sind ein Resultat der wechselnden Popularität größerer Friedhöfe in Athen. Die wachsende Bevorzugung gemeinschaftlich genutzter Nekropolen spätestens ab dem frühen 8. Jh. v. Chr. und die damit einhergehende Veränderung der repräsentativen Strategien lassen dennoch Rückschlüsse auf ein zunehmendes Gemeinschaftsbewusstsein sowie eine beginnende Festigung sozialer Prominenzrollen zu. Die Analyse der Gräber trennt den Untersuchungszeitraum somit grob in eine Phase der stärkeren gesellschaftlichen Fragmentierung im 11.–9. Jh. v. Chr. und eine Periode der wachsenden soziokulturellen Verbindungen ab dem 8. Jh. v. Chr. Ganz ähnliche Entwicklungen lassen die Heiligtümer erkennen: Die früheren Kultstätten fungierten wohl als neutrale Versammlungsplätze in der weiteren Umgebung siedelnder Gruppen. Im 8. und 7. Jh. v. Chr. entstanden dagegen vielerorts Heiligtümer, die klarere und kleinere ›Einzugsbereiche‹ besaßen und damit einerseits der Ausbildung territorial definierter Gemeinschaften und andererseits der sozialen Differenzierung innerhalb dieser dienten. Dies bezeugen aufwändige Votive und Reste gemeinschaftlicher Feste, während u. a. das Aufkommen vieler simpler Votive in der 2. Hälfte des 7. Jhs. v. Chr. die aktive Partizipation größerer Personengruppen wahrscheinlich macht.

Zuletzt werden die Einzelergebnisse der Arbeit miteinander in Beziehung gesetzt. Es entsteht das Bild einer zwar ab dem 8. Jh. v. Chr. beschleunigten, doch letztlich kontinuierlichen Entwicklung, innerhalb derer die früharchaische Zeit eine entscheidende Formationsphase darstellt. Die Vorstellung einer ›Entstehung‹ der athenischen Polis im 8. Jh. v. Chr. dagegen ist irreführend.

Maximilian Rönnberg

 
M. F. Rönnberg, Athen und Attika vom 11. bis zum frühen 6. Jh. v. Chr. Siedlungsgeschichte, politische Institutionalisierungs- und gesellschaftliche Formierungsprozesse, Tübinger Archäologische Forschungen 33 (Rahden 2021).

 
 
Spätgeometrischer Grabkrater der Trachones-Werkstatt, Metropolitan Museum of Art 14.130.15.

 
Attika, spätgeometrische und nur allgemein geometrisch datierbare Befunde.

Erfahrungsbericht einer Klassischen Archäologin auf anderen Pfaden

„Kathrin, ich habe eine Stelle an einer anderen Uni – und Du bist genau die richtige, meinen Job hier im Forschungsmanagement zu übernehmen…!“

Der Weg…

Das war 2016 - Ich stand kurz vor der Verteidigung meiner Doktorarbeit im Fach Klassische Archäologie an der Frankfurter Goethe-Universität, als ich die Nachricht meiner Freundin aus Köln erhielt. Sie kannte mich bereits aus dem Studium in Frankfurt und auch beruflich, da ich sie am Archäologischen Institut der Universität zu Köln (UzK) in Ihrer Elternzeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin vertrat. Nachdem ich dort anschließend noch eine Vertragsverlängerung erhielt, teilten wir dann noch ein Jahr das Büro.

„…Na hör mal!“, war meine Reaktion. „Ich schreibe doch nicht mehrere hundert Seiten Doktorarbeit, um dann im Forschungsmanagement zu landen!?“ Ich war etwas empört. Stand mir doch in Bälde, mit dem Doktor in der Tasche, die (Archäologen-)Welt offen….

„Doch!“ – sie insistierte. „Schau es Dir zumindest einmal an und lass Dir das Aufgabengebiet erläutern…“. Ich war noch nicht überzeugt. Insgeheim sah ich das ominöse „Forschungsmanagement“ in einer rückschrittlichen Amtsbude verortet mit drögen Verwaltungsabläufen und Schaltersituation wie beim Einwohnermeldeamt... ich hatte tatsächlich keine Ahnung.

„…Und die Kollegen, das Umfeld, die vielseitigen Aufgaben, die Verantwortung…“ schwärmte Sie weiter. „Außerdem“ – sie hob den mahnenden Finger der Erfahrung – „fällst Du dann nicht nach der Verteidigung in ein Loch und hast erst mal was.“

Was für ein Loch? Ich war gewiss, die Klassische Archäologie und der Unibetrieb haben nur auf mich gewartet... Aber nun gut; ein nicht unbeachtlicher Teil von mir ist ausgeprägt sicherheitsorientiert und ich entschied: Ansehen schadet ja nichts. Und der Abteilungsleiter ist ja schließlich auch Klassischer Archäologe – so verkehrt kann das ja nicht sein…

Also zimmerte ich meine Initiativbewerbung zusammen und reiste – ganz analog – gleich zwei Mal nach Köln, da ich zwei Vorstellungsgespräche zu führen hatte: Es handelte sich nämlich um eine sogenannte Matrixstelle – an der Schnittstelle zwischen Universitätsverwaltung und dem am Institut angesiedelten Projekt selbst. Allein das Verfassen der Bewerbung öffnete mir schon leise die Augen – kramte ich doch Kompetenzen hervor, die ich durchaus hatte, aber mir noch nie für meine bisherigen Bewerbungen von Relevanz schienen.

…abgebogen…

Mehrere Faktoren unterstützten meine Entscheidung, schließlich tatsächlich das Wagnis zu starten und ins Forschungsmanagement abzubiegen: Die Stadt Köln habe ich in meiner Zeit an der dortigen Uni bereits lieben gelernt und feste Freundschaften geschlossen. Die Aufgaben, wie Sie mir skizziert wurden, klangen tatsächlich spannend! Aber gleichzeitig auch nach einer enormen Hürde… Wie soll ich mich da reinfuchsen? Ist das tatsächlich im Portfolio meiner Expertisen? Organisieren, Koordinieren, Administrieren, Konzipieren…; diplomatisches Verhandlungsgeschick und stets lösungsorientiert denken? Bis auf letzteres hatte ich jene Qualitäten an mir jedenfalls nie bewusst wahrgenommen!

Offenbar sahen das meine Gesprächspartner anders und ich trat kurz nach Verteidigung der Doktorarbeit tatsächlich meine Reise und den Weg ins Wissenschafts- und Forschungsmanagement nach Köln an. Organisieren konnte ich als langjährige Pendlerin schon immer gut – meine beruflichen Stationen waren von Norden nach Süden schon vorher geographisch weit gestreut und von meiner „Homebase“, wie ich Frankfurt gerne nenne, mal mehr mal weniger weit entfernt. Sortieren, Auswerten, Zusammenstellen und Überblick behalten – das praktizierte ich während meiner Doktorarbeit ohnehin. Jedoch: all dies hielt ich immer für „normal“…

Erst mit der „Schulung“ durch das Dezernat 7 „Forschungsmanagement“ der UzK und meine dortige Matrixstelle sowie zwei Jahre später dann als Koordinatorin eines Frankfurter Sonderforschungsbereichs, für weitere 1,5 Jahre zurück an der Goethe Uni, zeigten mir zum einen meine eigene Vielseitigkeit auf und zum anderen diejenigen des Berufs „Forschungs- und Projektmanagerin“. Die Berechtigung dafür, dass es sich bei „Wissenschaftsmanagement“ um einen eigenen Studiengang handelt, habe ich schnell erkannt. Ich hatte jedoch das Glück, durch Eigeninitiative und Fortbildungen, durch Engagement, Interesse und auch die richtigen Menschen auf meinem Weg eine gewisse Expertise in diesem Bereich zu erlangen.

Station, Bestand und Ausblick

Ausreichend dafür, dass ich nach viel Pendeln und Suchen aktuell wieder in meiner Heimatstadt Frankfurt gleich zwei abwechslungsreiche, fordernde aber auch erfüllende Aufgabenbereiche im Forschungsmanagement antreten konnte: Am DIPF und der RGK . Insbesondere mit der Tätigkeit an der RGK konnte ich schließlich wieder den Bogen zur Archäologie schlagen und wirke zurzeit zumindest mit 50% im mir fachnahen Bereich des Wissenschaftsmanagements. Einziger Wermutstropfen: Auch diese beiden Anstellungen sind – wie auch die meisten im Feld der „eigentlichen Forschung“ – befristet und eine Flexibilität bleibt weiterhin als Kernanforderung bestehen.

Wenn ich jetzt auf die Jahre seit 2016 zurückblicke, so merke ich, dass es einen ganzen Schatz an Kompetenzen gibt, die das Studium in einem pflanzt. Man ist sich dieses Schatzes oft nicht gewahr und es ist ein großes, wunderbares Glück, wenn FreundInnen und KollegInnen einen bei Zeiten mit der Nase auf Tätigkeitsfelder und Optionen stoßen, auf welche man selber nie gekommen wäre. Ich habe beschlossen, weiter offen und flexible auf sich bietende Möglichkeiten zu reagieren und mit Engagement und Einsatz meine(n) Beruf(e) weiterzuführen. Ich bin Archäologin und Wissenschaftsmanagerin, Aber auch Beraterin und Netzwerkerin. Bestimmt noch einiges mehr. Jede und jeder von uns hat Talente. Manche sind offensichtlich und aus Abschlusszeugnissen abzuleiten – andere sind individuell und zum Teil verborgen. Danach zu graben lohnt sich – auch für nicht-Archäologen!

Und aktuell - Was macht sie jetzt konkret?

Hierzu gilt noch immer das, was ich im Interview auf der dArV-Webseite formulierte:

„Als Leitung der Koordination eines Forschungsnetzwerks am DIPF und Wissenschaftsmanagerin an der RGK (zur Zeit 50/50) besteht mein beruflicher Alltag aus viel Kommunikation, Koordination, Vernetzung, Strukturierung, Strategiebildung. Mein Berufsalltag ist mehr konzeptionell als operativ.“ Die Anforderungen sind bei jedem Projekt anders. Mal geht es mehr um Mitteladministration, mal mehr um diplomatisches Organisieren. Was ich sowohl bei der RGK als auch beim DIPF mache, ist im Grunde das Fernhalten verschiedener Verwaltungsbelange von den Schultern der WissenschaftlerInnen. Jedoch sind ebenso konkrete kleinere wie größere Projekte in Abstimmung mit Projekt- und oder Dienstellenleitungen umzusetzen. Zum Beispiel entwickeln wir aktuell einen auf die Pandemie zu geschnittenen internen Veranstaltungsleitfaden. Auch für die Planung, Umsetzung und Durchführung von Veranstaltungen bin ich aktiv mitverantwortlich – und natürlich für die Wissenschaftskommunikation.

„…Die Einbindung in den jeweils sehr offenen und harmonischen Kollegenkreisen, die gegenseitige Unterstützung, der Austausch und die stete Weiterentwicklung lassen mich täglich gern zur Arbeit gehen.“

Kathrin Weber-Rauland, Frankfurt

Es kursieren viele Anekdoten zu Sokrates. In einigen spielt auch Xanthippe, die Ehefrau des Philosophen, eine zentrale Rolle. Eine davon möchten wir hier kurz vorstellen. Sie ist in zwei antiken Texten überliefert, die beide aus der Kaiserzeit stammen. Die Geschichte wird in der Varia Historia des im fortgeschrittenen 2. Jh. n. Chr. schreibenden Claudius Aelianus erzählt und ebenso in den Deipnosophisten des ungefähr gleichzeitigen Athenaios. Es geht darum, wie Xanthippe auf ein Geschenk reagiert, das Alkibiades dem Sokrates zukommen lässt. Hier der Text aus der Varia Historia:

πλακοῦντα ὁ Ἀλκιβιάδης μέγαν καὶ ἐσκευασμένον κάλλιστα διέπεμψε Σωκράτει. ὡς οὖν ὑπὸ ἐρωμένου ἐραστῇ πεμφθὲν [τὸ] δῶρον ἐκκαυστικὸν τὸν πλακοῦντα διαγανακτήσασα κατὰ τὸν αὑτῆς τρόπον ἡ Ξανθίππη ῥίψασα ἐκ τοῦ κανοῦ κατεπάτησε. γελάσας δὲ ὁ Σωκράτης ῾οὐκοῦν᾽ ἔφη ῾οὐδὲ σὺ μεθέξεις αὐτοῦ.᾿ εἰ δέ τις οἴεται περὶ μικρῶν με λέγειν λέγοντα ταῦτα, οὐκ οἶδεν ὅτι καὶ ἐκ τούτων ὁ σπουδαῖος δοκιμάζεται ὑπερφρονῶν αὐτῶν, ἅπερ οὖν οἱ πολλοὶ λέγουσιν εἶναι κόσμον τραπέζης καὶ δαιτὸς ἀναθήματα. (Varia Historia 11, 12)

Einen Kuchen schickte Alkibiades dem Sokrates, einen großen und sehr schön zubereiteten. Da es ein Geschenk war, das von einem Geliebten an einen Liebhaber geschickt wurde, um das Feuer der Leidenschaft zu schüren, warf Xanthippe, die in der ihr eigenen Art ungehalten wurde, den Kuchen aus dem Korb und zertrat ihn. Sokrates lachte und sagte: „Also wirst auch du nichts davon mithaben!“ Wenn jemand der Meinung ist, dass ich über Kleinigkeiten spreche, weiß er nicht, dass auch hieraus der ernsthafte Charakter zu erkennen ist, der all jenes verachtet, was die Masse für Schmuck des Tisches und Zierde des Mahles hält (Übers. Brodersen 2018, leicht modifiziert).


Auf die emotionale Seite der Szene gehen Aelianus und Athenaios gar nicht ein, doch ist sie grundlegend für das Verständnis.

Sokrates und Alkibiades sollen ein nicht nur freundschaftliches, sondern auch homosexuelles Verhältnis gehabt haben. Von dem Kuchen heißt es ausdrücklich, dass er ein Geschenk war „um das Feuer der Leidenschaft zu schüren“.

Alkibiades hat sich offenbar Gedanken darüber gemacht, was Sokrates gefallen könnte. Einen Kuchen verleibt man sich ein, er bietet einen sinnlichen Genuss, ist außerdem etwas sehr Persönliches. Kuchen bzw. Essen haben etwas mit körperlichen Wohlbefinden zu tun, andere Gegenstände wären viel weniger intim. Insofern ist Xanthippes Reaktion gegen den Kuchen besonders heftig. Sie wirft ihn nicht hin, weil sie Kuchen generell für unwichtigen Tand hielte, sondern weil sie gekränkt und eifersüchtig ist. Schließlich untergräbt Alkibiades die erotische Beziehung, die sie mit ihrem Ehemann Sokrates hat.

Die Fassung zu behalten, wenn man sich über etwas ärgert – denn auch Sokrates hat sich im tiefsten Innern sicher im ersten Moment über den verlorenen Genuss geärgert –, bedeutet immer einen gewissen inneren Aufwand, nämlich das Reflektieren der eigenen Gefühle und das Ringen um Selbstbeherrschung. Die Fassung zu verlieren bedeutet gerade keine Mühe, sondern ist das spontane Nachgeben eines inneren Impulses. Xanthippe und Sokrates sind Prototypen zweier konträrer Charaktere: Xanthippe folgt impulsiv ihren Emotionen, Sokrates hat ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und Reflektiertheit erreicht. Der Kern der Anekdote liegt in der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Verhaltenswesen der Ehegatten. Die Anekdote will nicht etwa moralisierend den ernsthaften Charakter des Sokrates loben noch geht es, wie Aelianus in einem zweiten Text nahelegt, um die Bedeutung des Sammelns unwichtiger Dinge wie Kuchen, sondern der Witz der Anekdote liegt darin, dass hinter Sokratesʼ trockenem Satz bei aller philosophischen Abgeklärtheit seine eigene (überwundene?) Sinnlichkeit durchschimmert.

Aelians Kommentar zu der Anekdote kommt überraschend, denn anscheinend geht es ihm nicht um den vordergründigen, menschlichen Aspekt der Geschichte. Vielmehr rechtfertigt er sich, indem er einen zukünftigen Leser tadelt, der nach der Relevanz dieser Anekdote fragen würde, und den Begriff des σπουδαῖος, des ernsthaften Charakters, ins Spiel bringt. Ein solcher nämlich würde billige Genüsse verachten. Dies mag sich vordergründig auf die Anekdote und den Kuchen beziehen: Sokrates steht über den Dingen und erachtet einen Kuchen gar nicht für würdig, um sich darüber aufzuregen. Sehr viel wahrscheinlicher jedoch meint Aelianus an dieser Stelle ganz unbescheiden sich selbst und interpretiert den „Schmuck des Tisches und Zierde des Mahles“ als intellektuelle Tischgespräche. Er selbst weiß eben, wie er sich im Kontext eines Festmahles von der Masse (οἱ πολλοί) durch seine Raffiniertheit und Belesenheit abheben kann, indem er andere und vielleicht entlegenere Kostbarkeiten anbietet als die Erwarteten und Geläufigen. Dies lässt er auch daran deutlich werden, dass er mit seinen beiden letzten Worten (δαιτὸς ἀναθήματα) scheinbar beiläufig ein Homer-Zitat einwebt (Od. 1.152). Ein Spiel mit Worten also, wie es von einem Vertreter der Zweiten Sophistik durchaus zu erwarten ist.

Dass eine solche Interpretation möglich ist, bestätigt sich, wenn wir diese Textstelle in einem weiteren Kontext betrachten. Als erstes ist in diesem Zusammenhang zu bemerken, dass die bunten Anekdotensammlungen aus der Antike, zu denen die Varia Historia gehört, oft ausdrücklich zusammengestellt wurden, um den Gästen eines Festmahles genügend geistreichen Gesprächsstoff zur Verfügung zu stellen (Plutarch, Tischgespräche 621c–d und Oikonomopoulou 2013).

Der zweite Text, in dem die Sokrates-Anekdote überliefert ist, findet sich in den Deipnosophisten des Athenaios. Dieses Werk steht nicht nur zeitlich sehr nahe an Aelians Varia Historia, sondern beschreibt auch tatsächlich ein solches Gelehrtengastmahl (Deipnosophistai), für das diese Sammlungen zusammengestellt wurden.

Πλακούντων δὲ ὀνόματα πολλῶν καταλεξάντων, ὅσων μέμνημαι τούτων σοι καὶ μεταδώσω. οἶδα δὲ καὶ Καλλίμαχον ἐν τῷ τῶν παντοδαπῶν συγγραμμάτων Πίνακι ἀναγράψαντα πλακουντοποιικὰ συγγράμματα Αἰγιμίου καὶ Ἡγησίππου καὶ Μητροβίου, ἔτι δὲ Φαίστου. ἡμεῖς δὲ ἃ μετεγράψαμεν ὀνόματα πλακούντων τούτων σοι καὶ μεταδώσομεν, οὐχ ὡς τοῦ ὑπ᾽ Ἀλκιβιάδου πεμφθέντος Σωκράτει. ὃν Ξανθίππης καταπατησάσης, γελάσας ὁ Σωκράτης ‘οὐκοῦν᾽, ἔφη, ‘οὐδὲ σὺ μεθέξεις τούτου.’ (Athen. 14, 643e–f)

Da sie die Bezeichnungen vieler Kuchenarten aufzählten, will ich dir diese – soweit ich mich entsinne – mitteilen. Ich weiß aber, dass Kallimachos in seiner „Aufstellung von Schriften aus allen Ländern“ auch Abhandlungen aufgeführt hat, die sich mit der Herstellung von Kuchen beschäftigen, und zwar von Aigimios, Hegesippos, Metrobios wie auch Phaistos. Wir werden dir nun diejenigen Bezeichnungen von Kuchen, die wir herausgeschrieben haben, auch mitteilen, nicht wie bei dem, der von Alkibiades an Sokrates geschickt worden war. Als diesen Xanthippe am Boden zerschmettert hatte, bemerkte Sokrates: „So wirst auch du davon nichts mitbekommen“. (Übers. Friedrich 2001, leicht modifiziert)

Auch Athenaiosʼ Zeilen enthalten ein geistreiches Wortspiel, noch dazu eines, das die Übersetzung nicht zum Ausdruck bringen kann: „μεταδώσομεν“ wurde hier zweideutig im Sinne von „mitteilen“ und „teilen“ gebraucht. Der Autor betont damit, dass er seinem Adressaten (Timokrates) nichts vorenthalten werde, ganz im Gegensatz zu Xanthippe, die ihrem Mann den Kuchen nicht gönnte.

Den modernen Leser mag es verwundern, dass Athenaios an dieser Stelle allen Ernstes sämtliche Kuchennamen referieren will, die im vorherigen Verlauf des Gastmahls der Deipnosophisten erwähnt wurden. Wir sind in Buch 14 und schon weit im Gastmahl fortgeschritten, denn die Nachtische sind nun an der Reihe, über die Pontianos, einer der Gäste, lange referiert hat. Nun will der Ich-Erzähler, also Athenaios, seine eigene Leistung unter Beweis stellen, die er dank seines Erinnerungsvermögens erbringen wird. Mit dem Hinweis auf Kallimachos rechtfertigt er sein Tun: Kuchen sind zwar keine Helden, doch das Kleine, Raffinierte, aber sehr Gelehrte kann sich durchaus im entsprechenden Zusammenhang mit dem großen, erhabenen Epos messen. Es galt also als größerer Fehler, etwas Subtiles zu übersehen und eine Schrift fälschlicherweise zu unterschätzen, als zu viel zusammenzutragen.

Wenn diese Interpretation stimmt, so kann sie auch ein anderes Licht auf weitere Aussagen des Aelianus werfen, die seine eigene Tätigkeit betreffen. Dazu wollen wir zum Schluss eine dritte Stelle kurz erwähnen. Im Prolog seiner anderen erhaltenen Anekdotensammlung, der De Natura Animalium, wendet er sich auch an zukünftige Leser und speziell solche, die seinem Werk kritisch entgegentreten könnten. Ihnen gibt er Folgendes zu bedenken:

ἐγὼ δὲ ἐμαυτῷ ταῦτα ὅσα οἷόν τε ἦν ἀθροίσας καὶ περιβαλὼν αὐτοῖς τὴν συνήθη λέξιν, κειμήλιον οὐκ ἀσπούδαστον ἐκπονῆσαι πεπίστευκα. εἰ δέ τῳ καὶ ἄλλῳ φανεῖται ταῦτα λυσιτελῆ, χρήσθω αὐτοῖς· ὅτῳ δὲ οὐ φανεῖται, ἐάτω τῷ πατρὶ θάλπειν τε καὶ περιέπειν· οὐ γὰρ πάντα πᾶσι καλά, οὐδὲ ἄξια δοκεῖ σπουδάσαι πᾶσι πάντα. εἰ δὲ ἐπὶ πολλοῖς τοῖς πρώτοις καὶ σοφοῖς γεγόναμεν, μὴ ἔστω ζημίωμα ἐς ἔπαινον ἡ τοῦ χρόνου λῆξις, εἴ τι καὶ αὐτοὶ σπουδῆς ἄξιον μάθημα παρεχοίμεθα καὶ τῇ εὑρέσει τῇ περιττοτέρᾳ καὶ τῇ φωνῇ. (De Natura Animalium, Prolog)

Indem ich dieses alles aber, so weit möglich, gesammelt und in die gewohnte Sprache eingekleidet habe, glaube ich einen ernstzunehmenden Schatz zustande gebracht zu haben. Wenn auch ein anderer diese Arbeit brauchbar findet, mag er sie benutzen; findet er sie nicht so, sei es doch ihrem [geistigen, Anm. Verf.] Vater gestattet, sie zu hegen und zu pflegen. Nicht alles scheint ja allen schön und nicht allen alles der ernsthaften Bemühung wert. Wenn wir aber erst nach vielen der Erstschöpfer und Weisen geboren sind, soll diese Zeitfolge der Anerkennung keinen Abbruch tun, solange wir nur auch selbst ein ernstzunehmendes Stück Bildungswissen mit gewählterer Untersuchung und Sprache bieten. (Über. Brodersen 2018, leicht modifiziert)

Auffallend ist die Aneinanderreihung von Begriffen, die mit dem σπουδαῖος (dem ernsthaften Charakter) aus der Sokrates-Anekdote in Verbindung gebracht werden können. Aelianus sieht seine Tätigkeit als diejenige eines σπουδαῖος, eines ernsthaften Wahrers des Wissens, der den wirklichen Wert erkennt, auch im Unscheinbaren.

 Alexandra Trachsel, unter Mitwirkung von Luise Seemann und Thomas Ganschow

 

Literatur:

Brodersen K. (trad.), Ailianos, Vermischte Forschung, Berlin/Boston 2018.

Brodersen K. (trad.), Ailianos, Tierleben, Berlin/Boston 2018.

Ceccarelli P., Dance and Desserts: an Analysis of Book Fourteen, in D. Braund und J. Wilkins (Hrsg.), Athenaeus and his World. Reading Greek Culture in the Roman Empire, Exeter 2000, 272–291.

Oikonomopoulou K., Plutarch’s Corpus of Quaestiones in the Tradition of Imperial Greek Encyclopaedism, in J. König und G. Woolf (Hrsg.), Encyclopaedism from Antiquity to the Renaissance, Cambridge 2013, 129–153.

Friedrich C. und Nothers T., Athenaios, Das Gelehrtenmahl, Buch XI–XV, Teil 2: Buch XIV und XV, Stuttgart 2001.


http://www.aeria.phil.uni-erlangen.de/photo_html/portrait/griechisch/denker/sokrates/sokrat25.jpg

Abb. 1:  Herme des Sokrates. Neapel, Nationalmuseum.
Historisches Photoarchiv der Antikensammlung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
http://www.aeria.phil.uni-erlangen.de/photo_html/portrait/griechisch/denker/sokrates/sokrat25.html

Unser erster Blog entführt Sie nach Kleinasien, in das karge Bergland Lykiens. Dort liegt auf 1.500 Metern Höhe die antike Stadt Oinoanda, die erst im 19. Jh. von britischen Forschungsreisenden wieder entdeckt wurde (Abb. 1). Über die Fachwelt hinaus erlangte Oinoanda Berühmtheit durch die längste Inschrift, die aus der Antike bekannt ist. Sie umfasst in leicht verständlicher Sprache die Lehren des ortsansässigen griechischen Philosophen Diogenes, der in der Tradition der epikureischen Schule stand. Angebracht war sie öffentlich zugänglich an der Rückwand einer Säulenhalle an der Agora, dem antiken Marktplatz.

(mehr zu Oinoanda: https://www.dainst.org/projekt/-/project-display/48576)

Die öffentliche Halle, an der die Inschrift angebracht war, besteht nicht mehr (Abb. 2). Doch über 300 ihrer Blöcke und Steinfragmente sind ab dem ausgehenden 19. Jh. bis in jüngere Zeit (2017) teils als wiederverwendete Bauteile in den Mauerresten späterer Gebäude, vielfach aber auch in dem überall auf dem Ruinengelände verstreuten Schutt entdeckt worden (Abb. 3). Ein erheblicher Teil der noch fehlenden ca. 80% der Inschrift harrt weiterhin auf dem seit mindestens einem Jahrtausend nicht mehr durch befahrbare Wege zugänglichen Bergrücken der antiken Siedlung Oinoanda seiner Entdeckung.

Hauptaufgabe der an den modernen Forschungen beteiligten Wissenschaftler war und ist die Rekonstruktion dieser wohl aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert stammenden Inschrift, die nur teilweise in zahlreichen Fragmenten erhalten ist. Was sie uns über die Philosophie des Diogenes hinaus noch verrät, erläutert Prof. Dr. Jürgen Hammerstaedt von der Universität zu Köln.

 

Diogenes von Oinoanda zwischen „Open Access“, „Präsenz-“ und „Distanzlehre“:

Eine (hoffentlich) ephemere Betrachtung in Corona-Zeiten

„Epicurean philosophy in open access“ – so bezeichnete unser belgischer Kollege Geert Roskam treffend die umfangreichste aller antiken Inschriften.[1] In ihr animierte Diogenes von Oinoanda im 2. Jh. n. Chr. seine Mitbürger, dazu aber auch explizit Fremde und nachgeborene Generationen in Lehrschriften, Sinnsprüchen und Briefen zu einem Leben nach Grundsätzen der epikureischen Philosophie. Ihr „Open Access“ manifestierte sich nicht allein in ihrer Anbringung in einer öffentlich und gratis zugänglichen Halle (Stoa), sondern schlug sich auch in ihrer Sprache nieder, die dem geläufigen Koiné-Griechisch nahe stand. Zudem zielte sie inhaltlich mit eingängigen, bisweilen drastisch anmutenden, aber konkret gestalteten Vergleichen und Beispielen auf die Lebenswelt einer vornehmlich bäurischen Leserschaft, die sich als teure Einzelstücke verfertigte Buchrollen mit literarischem Bildungsgut nicht leisten konnte.

Einleitend rechtfertigt Diogenes seine Initiative damit, dass er die philosophische Unterweisung im Einzelgespräch mit aufnahmebereiten Personen zwar bevorzugen würde, er sich jedoch angesichts seines hohen Alters und in der Überzeugung, räumlich und zeitlich eine höhere Wirkung zu erzielen, für die inschriftliche Verbreitung seiner Botschaft entschlossen habe.

Zweifellos übertraf diese öffentlich zugängliche Publikationsweise gerade als ‘Langzeitarchivierung’ das im 2. Jh. n. Chr. führende Schriftmedium der Papyrusrollen. Martin Ferguson Smith würdigte sie zu Recht im Rahmen der vor nunmehr einem halben Jahrhundert in Gang gebrachten neueren Forschungen[2] als originelle und innovative Leistung.

Doch Diogenes verbreitete seine Botschaft nicht nur inschriftlich in „Open Access“. Er betrieb auch „Präsenzlehre“. In einem 2010 entdeckten Brieffragment erklärt er sich zur Unterweisung junger Damen bereit, die bis dahin nur Kostproben des Epikureismus genossen hätten.

Ein Neufund von 2017 macht wahrscheinlich, dass Diogenes sich für seine Lehre einer im griechischen Bereich damals noch neuartigen Technologie bedient hat: der Stenographie. Diese in den letzten Jahrzehnten der römischen Republik erstmals im Umfeld Ciceros u. a. von Tiro entwickelte Methode zur Erfassung gesprochener Rede ist im griechischen Bereich erst ab dem 2. Jh. n. Chr. belegt, wo sie bald viele Lebensbereiche prägte. Wir erfahren nun aus diesem Text, dass auch Diogenes auf Stenographen zurückgriff (Diog. NF 215, Abb. 4):

Archelaos grüßt Dion. Da Du die von unserem (Freund) Diogenes nach der Bestattung seines Sohns gesprochenen Worte zu erfahren wünschst, erledige ich dies mit großem Vergnügen. Denn ich will Dir jeden Gefallen in der Weise tun, als sei er für mich selbst. Die Angelegenheit entwickelte sich für mich, da ich Dir eine bessere Übermittlung als meine eigene zukommen lassen wollte, äußerst günstig: da nämlich einige präzise Stenographen seinen Vortrag aufgenommen hatten, hatte ich davon eine Kopie gemacht und [mitgenommen].

Wir lesen hier nicht nur, daß Diogenes einen Sohn und somit auch eine Frau gehabt hat – wobei die Ehe eigentlich den Grundsätzen einer epikureischen Lebensweise widersprach – und dass dieser Sohn noch zu seinen Lebzeiten verstorben ist. Die Erwähnung der Stenographen wirft zudem ein ganz neues Licht auf einen anderen Brief des Diogenes, der eigentlich schon seit den frühesten Entdeckungen der Inschrift bekannt ist. Hierin schrieb er an einen philosophischen Gesinnungsgenossen in Griechenland, während er auf der Insel Rhodos durch widriges Wetter festsaß und befürchtete, dass es wegen seines hohen Alters gar nicht mehr zu einem Wiedersehen kommen würde (Diog. fr. 63):

... ich schicke dir, wie du es verlangt hast, das zu, was die unendliche Zahl der Welten betrifft. Für dich hat sich aber eine glückliche Fügung in dieser Angelegenheit ergeben: denn bevor dein Brief eintraf, war gerade Theodoridas von Lindos, ein dir nicht unbekannter Gefährte von uns, der noch Anfänger im Philosophieren ist, mit demselben Argument befasst. Dieses aber gewann dadurch an Kontur, dass es zwischen uns beiden im persönlichen Gespräch erörtert wurde. Denn die gegenseitig von uns beiden bekundete Billigung und Ablehnung und dazu unsere Fragen verliehen der Untersuchung des Problems höhere Präzision. Daher also sende ich dir, Antipater, jene Unterredung zu, damit sich derselbe Effekt ergibt, wie wenn du, ebenso wie Theodoridas, bei Gespräch zugegen wärest und den einen Aussagen zustimmtest, bei den anderen Probleme aufwürfest und zusätzliche Fragen stelltest.

Wie konnte Diogenes in der offenbar beigefügten Mitschrift die Spontaneität eines unmittelbaren Austauschs von Argumenten und Einwänden im direkten persönlichen Gespräch einfangen? Wohl nur mittels Stenographie, die Diogenes ebenso wie das ungewöhnliche Medium der Inschrift genutzt hat, um seine Vermittlung philosophischen Gedankenguts auf innovative Weise und mit neuartigen Mitteln möglichst wirkungsvoll zu gestalten.

Während in diesem Jahr zwar kein Wintersturm, aber eine Pandemie persönliche Zusammenkünfte verhindert, helfen uns ebenso wie einst dem Diogenes erst seit einer kurzen Zeit verfügbare Technologien, die Spontaneität und Lebendigkeit unserer Lehrgespräche so gut wie es geht zu wahren.

Köln, im November 2020                                                                                  Jürgen Hammerstaedt

 

[1] G. Roskam, Epicurean philosophy in open access. The intended reader and the authorial approach of Diogenes of Oinoanda, in: Epigraphica Anatolica 48 (2016) 151ff.

[2] M. F. Smith, ”Fifty Years of New Epicurean Discoveries at Oinoanda”: Cronache Ercolanesi 50 (2020) 241-258; https://www.martinfergusonsmith.com/pdf/CRONACHEERCOLANES.pdf.

 
Editionen der Fragmente des Diogenes von Oinoanda:
M. F. Smith, Diogenes of Oinoanda. The Epicurean Inscription = La Scuola di Epicuro, Supplemento 1 (Napoli 1993), ergänzt durch epigraphische Dokumentation in M. F. Smith, The Philosophical Inscription of Diogenes of Oinoanda = Ergänzungsbände zu den Tituli Asiae Minoris 20 (Wien 1996). Die 1997 entdeckten Texte und weitere Aktualisierungen bei M. F. Smith, Supplement to Diogenes of Oinoanda. The Epicurean Inscription = La Scuola di Epicuro, Supplemento 3 (Napoli 2003). Die Funde der jährlichen Surveys zwischen 2007 und 2012 unter Leitung von Martin Bachmann, dem damaligen Zweiten Direktor der Abteilung Istanbul des Deutschen Archäologischen Instituts, sind zusammengefasst in J. Hammerstaedt / M. F. Smith, The Epicurean Inscription of Diogenes of Oinoanda. Ten Years of New Discoveries and Research (Bonn 2014). Zu den letzten Entdeckungen s. J. Hammerstaedt / M. F. Smith, “New Research at Oinoanda and a New Fragment of the Epicurean Diogenes (NF 213)”: Epigraphica Anatolica 49 (2016) 109-125 und “Diogenes of Oinoanda. The New and Unexpected Discoveries of 2017 (NF 214-219), with a Re-edition of fr. 70-72”: Epigraphica Anatolica 51 (2018) 43-79.

 Zur Philosophie des Diogenes:
J. Hammerstaedt / P.-M. Morel / R. Güremen (Hrsg.), Diogenes of Oinoanda. Epicureanism and Philosophical Debates – Diogène d’Œnoanda. Épicurisme et controverses (Leuven 2017).

 Filme über die Oinoandasurveys unter Leitung von Martin Bachmann:
“Oinoanda - Die größte Inschrift der Welt”:

 

Abb. 1: Karte von Lykien (aus: Martin Ferguson Smith, The Philosophical Inscription of Diogenes of Oinoanda = Ergänzungsbände zu den Tituli Asiae Minoris Nr. 20 [Wien 1996] Plate 1, Fig. 1). 



Abb. 2: Oinoandas „Esplanade“ mit dem einstigen Standort der Diogenes-Stoa im Bereich des hinter der hohen Fichte erkennbaren Trümmerfeldes (© Oinoandateam).

 

Abb. 3: Fragmente der Inschrift des Diogenes (© Oinoandateam).

 

Abb. 4: Diog. NF 215 (© Oinoandateam).